Eure «Wiedervereinigung» ist im gleichen Grade utopisch wie die Wiedervereinigung der evangelischen und der römischen Kirche. Die kommt nie, weil Rom - Bonn darunter die «Befreiung» von Verirrten und deren Rückführung nach alleinseligmachend RomBonn versteht. Die Wiedervereinigung der evangelischen und katholischen Kirche würde die radikale Destruktion der beiden geistigen Organisationen voraussetzen. Nur der gegenwärtige «Christus» selbst kann der benötigte Zertrümmerer sein. Das Zertrümmern fällt in die einfache Feststellung des «Christus», daß seine gegenwärtige Wiederkunft nicht in der Kirche stattfindet. - Für die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten besteht die gleiche Bedingung: Nur die Destruktion des östlichen wie des westlichen Satellitentums ermöglicht die Einigung, und wiederum hat man sich unter Destruktion mehr geistige als politische Taten vorzustellen.
Man sei doch unbefangen! und konzediere dem Weltgeist, daß die deutsche ‹Wiedervereinigung› in aller Welt nichts anderes sein kann als der den Deutschen von Gott abgeforderte Beitrag zur Lösung der «Sozialen Frage» (die es nur leider in gegenwärtiger Zeit im Bewußtsein der Teilnehmer am Wirtschaftswunder gar nicht gibt).
Es wäre Voreingenommenheit, den Russen nicht die Fähigkeit zuzutrauen, sich von der deutschen Lösung der «Sozialen Frage» imponieren zu lassen. Ihren Marx haben die Russen von Hegel. Mit dieser Tatsache hat der Weltgeist zugunsten der heutigen - hoffentlich aufrichtigen - Wiedervereinigungsfreunde ein Riesenkapital investiert, das nicht «abendländisch» verblödelt werden darf. Euer christentümelndes Abendland mit der heuchlerischen «sozialen» Marktwirtschaft ist keine Alternative zum Kommunismus dar Russen. Wenn Friedrich Engels die deutschen Arbeiter als die Erben der deutschen Philosophie imaginierte, so begriff er jedenfalls, daß es im heiligen Abendland um eine Revolutionierung der Weltanschauung ging. Eure Ollenhauers sind keine Weltanschauungspioniere; sie sind schon froh, wenn Sozialisten römischkatholisch sein dürfen. Eine deutsche Religion und Weltanschauung ist heute kein Thema, seit sich die Nazis die Finger verbrannt haben.
Wenn die Russen auf den Marxisten Hegel angewiesen sind, so sind sie auch - Verzeihung! - auf Rudolf Steiner angewiesen. Ich habe die Unbefangenheit, mich mißliebig zu machen, indem ich hier den Namen des Mannes hinschreibe, der deutliche Vorstellungen hat über die den Deutschen vom Weltgeist abverlangte Aktion zur Lösung der «Sozialen Fragen. Ich traue den intelligenten Russen zu, daß sie teilnehmend aufhorchen, wenn ihnen rational auseinandergesetzt wird, was Rudolf Steiner unter «Vergesellschaftung der Produktionsmittel» versteht. Ich zolle dem volkstümlichen Gruseln vor dem russischen Materialismus und Atheismus den gebührenden Respekt, zugleich aber vermute ich, daß die Chance des rechtschaffenen Materialismus, in Spiritualismus «umzuschlagen», möglicherweise größer ist als die entsprechende Chance einer halblahmen westlichen Christlichkeit.
Einst hat Heinrich Heine zu Recht den Pantheismus die «heimliche Religion Deutschlands» genannt. Nun, der Gott‑Impuls, der (theosophisch) «Christus» genannt werden kann, also der in der Gegenwart wirkende «Christus», ist kein Pantheist. In Übereinstimmung mit der Notwendigkeit des Weltlaufes, dessen persönliche Seele der «Christus» sein will (in den Menschenleuten, in den Tieren, in den Pflanzen und Steinen), will nun der «Christus» auch im sozialen Zusammenschaffen und Zusammenleben der Menschenleute in diesen die Anregung sein: eigentlich den «Christus» gemeint zu haben, wenn sie ihr geläufiges «ich», «ich», «ich» daherreden.
Aus Notwendigkeiten des Welt- und Geschichtslaufes will der «Christus» auf dreifache Weise die bessere Innerlichkeit der Menschenleute sein. - Rudolf Steiner will der vollen Wirklichkeit gerecht werden, indem er sorgfältig drei Quellen des sozialen Zusammenlebens unterscheidet: Erstens kommen aus den Ungleichheiten der Menschennatur die individuellen Fähigkeiten (von der Fähigkeit, eine Kuh anständig zu melken, bis zu den höchsten Fähigkeiten der genialen Menschheitspioniere). Zweitens kommen aus dem Rechtsbewußtsein der Menschen die Rechte; sie haben es nicht mit den individuellen Ungleichheiten der menschlichen Natur zu tun, sondern im Gegenteil mit der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen als mündiger Erdenbewohner; diese Rechte sind darum etwas von den persönlichen Fähigkeiten total Verschiedenes. Als dritte Quelle gibt es das menschliche Bedürfnis, das aus den Naturgrundlagen des körperlichen (und seelischen) Daseins der Menschenleute kommt, und im Kreislauf des Wirtschaftslebens durch Produktion, Zirkulation und Konsumtion Befriedigung finden muß. - Dem «Christus» als Führer liegt nun sehr daran, daß die Leute das Verschiedene und Besondere jeder dieser drei Quellen empfinden lernen, damit er sie dann anregen kann, vernünftig über die Einheit denken zu lernen, als die sich der dreigegliederte soziale Gesamtorganismus aus dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Kräfte zu ergeben hat. Von den drei Strömungen des menschlichen Zusammenlebens (Individualgeistigkeit, Rechttum, Wirtschaftskreislauf) konnte Rudolf Steiner nachweisen, daß sie im Laufe der neueren Zeit in einer unrechtmäßigen und unglücklichen Weise konfundiert wurden. Diese Erkenntnis wird heute von Vielen, unabhängig von Rudolf Steiner, bejaht. Es ist die Ansicht Vieler, daß der «Staat» die Neigung zeigt, seine Inkompetenz für «Wirtschaft» und «Geist» zu offenbaren. Setzt man anstelle des Wortes «Staat» das Wort «Polizei» (da doch das Sicherheitswesen die vorzügliche Aufgabe des Staates ist), so empfindet man leicht, daß die Polizei nicht zur geistigen Lenkung des Erziehungswesens berufen ist. Steiner fordert die strenge Auseinanderhaltung der drei Strömungen und eine Autonomie dreier sorgfältig abgegrenzter Gebiete, weil sich nur aus dem verständig Getrennten die gesunde Einheit ergeben kann.
Wegen dieser dreifachen Art, wie sich die Menschen im Sozialen darleben müssen und im Vertrauen auf den «Christus» darleben sollen, trägt nun der «Christus» an die Deutschen - wegen der spezifischen Geistesartung der Deutschen - die weltmäßige Anregung heran, den sozialen Organismus dreigliedrig zu strukturieren, weil der Einheitsstaat mehr auf Mohammedaner als auf die Deutschen zugeschnitten ist. Die Deutschen sollen jetzt nicht Hegel'sche Attrappen des Weltgeistes sein; sie sollen jetzt selbst als die ‹List der Idee› auftreten, d. h. sie sollen bei dem Auftrag, den Gott ihnen zugute hält, bewußt mitwirken.
Die Welt sollte jetzt den Ernst zur Kenntnis nehmen, mit dem die Soziale Frage in Mitteleuropa auf dem anthroposophischen Felde behandelt wird. Es bedeutet eine populäre Verflachung und den Verderb der wahren Gestalt der Sozialen Frage, wenn man als ihren Inhalt nur die Auflehnung gegen das private Eigentum an den Produktionsmitteln sieht. Eine Sozialisierung der Produktionsmittel, des Kapitals, im Sinne der Soziologie Rudolf Steiners hat die Tat der Unternehmer zu sein, indem diese sich der Einsicht verpflichten und die entsprechenden Einrichtungen treffen, daß Kapital dem fähigen Güterproduzenten zur persönlichen Verfügung stehen muß; und daß diese Verfügungsberechtigung aufhört bei Nichtbetätigung oder Nichtbefähigung des Unternehmers - mit den entsprechenden Konsequenzen hinsichtlich des Erbrechts. Diese Sozialisierung schließt die Einsicht der Unternehmer ein, daß der Sinn ihres Schaffens ein sozialer ist, und nicht in der privaten Bereicherung liegen kann. Zur Abwehr des gefürchteten Sozialismus können die Unternehmer die mit dem freien Unternehmertum verträgliche Sozialisierung der Produktionsmittel anstreben. Gewaltige Vorurteile werden zu überwinden sein. Der römische Papst etwa vertritt die Ansicht, daß das private Eigentum auch dann geschützt werden müsse, wenn z. B. der Erbe eines Fabrikunternehmens als dessen privater Eigentümer ein Nichtsnutz und Sozialschädling ist. (Vergl. die soziale Enzyklika «Quadragesimo anno», Absatz 47). Sozial fortschrittliche Unternehmer werden mithin das «Gespenst des Romanismus» auf seine aktuale Christlichkeit hin prüfen wollen.
Rudolf Steiners ‹Sozialisierung der Produktionsmittel› ist eine Apologie des rehabilitierten ‹Kapitalismus›. Kapital ist konzentrierter Geist. Der Weltgeist benötigt das Dasein von Kapital als das Einfallstor für sein Wirken als Herr der Geschichte. Weil Kapital ganz einfach «Intelligenz» ist, werden die Russen schon dahinter kommen müssen, was es mit dem Kapital und Kapitalismus auf sich hat, ohne, daß sie deswegen den Sozialismus, der nicht Intelligenz, sondern Gerechtigkeit fordert, zu kränken brauchten. Vielleicht sind die Russen dazu berufen, in Rudolf Steiners Begriff des Kapitals eine echte Alternative zum Marxismus anerkennen zu lernen.
P. S.
Wenn gefragt werden sollte, weshalb in meinem vorstehenden Briefe das Wort «Christus» beharrlich in Anführungszeichen steht, so hätte ich zu antworten: weil betont werden soll, daß die theosophischanthroposophische Christusverkündigung aus eigener Vollmacht geschieht - und nicht aus der Vollmacht einer Tradition. Die Theologen sind heute noch nicht in der Verfassung, die anthroposophische Christusidee auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Eine Definition dieser Idee - in dem Buche «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit» - lautet: «Man braucht nur zu wissen, was der Mensch in Wirklichkeit ist, und man kann von solcher Erkenntnis aus zu der Einsicht in die Wesenheit Christi vorschreiten … Es wäre denkbar, daß ein Wesen, man sage, ein Marsbewohner, herunterkäme auf die Erde, das nie etwas gehört hat von dem Christus und seinem Wirken. Vieles, was sich hier auf der Erde abgespielt hat, würde ein solcher Marsbewohner nicht verstehen; Vieles, was die Menschheit heute interessiert, würde ihn nicht interessieren. Aber das würde ihn interessieren, was der Mittelpunktsimpuls der Erdenevolution ist: die Christusidee, wie sie die Wesenheit des Menschen selber ausdrückt». Die Theologen sind bei einem Äußersten angelangt, wenn sie es wagen, neuestens mit Karl Barth die «Menschlichkeit Gottes» zu verkünden. Die Theosophie des Goetheanismus hat es mit der Göttlichkeit des spirituellen Wesens des Menschen - in seiner Evolution - zu tun.