Rüdiger Blankertz Peter Selgs Lausbubengeschichten von vorbildlichen Männern und Frauen um Rudolf Steiner oder: Was ist eine ‹anthroposophische› Biographie?
Was die menschliche Biographie eigentlich ist und was es für den Menschen bedeutet, sich ihrer bewußt zu sein, das wurde von Rudolf Steiner schon 1904 in seinem Buch ‹Theosophie› dargestellt. Seitdem ist für viele Menschen die Anthroposophie Rudolf Steiners selbst zu einem biographischen Faktor geworden. Ob sich Menschen in ihrem Leben für die Anthroposophie einsetzen oder sich gegen sie wenden, ob sie mit Anthroposophen selbst, mit anthroposophischen Einrichtungen oder bloß mit deren Produkten zu tun bekommen: eine Wirkung im Leben hat das allemal. Der biographische Faktor ‹Anthroposophie› wirkt auf vielfältige Art in das moderne Leben hinein. Man könnte dies als ‹Evolution› bezeichnen: Anthroposophie entfaltet ihre Gaben für das menschliche Leben. Naheliegend könnte nun die andere Frage erscheinen, inwieweit die davon berührten Menschen sich nun auch des Faktors ‹Anthroposophie› bewußt werden. Damit ist gemeint, daß die Anthroposophie selbst zu einer bewußten biographischen Angelegenheit werden könnte. Was man von der Anthroposophie für das Leben empfangen hat, würde ihr so, in Bewußtsein verwandelt, wieder entgegengebracht werden. Die Evolution würde durch die ‹Involution› ergänzt: Der Mensch widmete dann seine Gaben dem Wesen, dem er sie verdankt. Und die Lebensgaben der Anthroposophie würden durch die Bewußtseinskräfte der Anthroposophen ‹verstanden, ergriffen und weitergeführt› werden können. Eben diese an sich sehr erfreuliche Perspektive erscheint inzwischen auch durch die Erfahrung in allen Lebensbereichen in Frage gestellt. Der Erkenntnisimpuls der Anthroposophie droht in den Lebenszwängen der anthroposophischen und der Weltverhältnisse verloren zu gehen. Und das Bewußtsein dessen, worum es dabei geht, verschwimmt zusehends im Nebel der Meinungen. Der Nachdenkliche sieht sich so auf die Aussage Rudolf Steiners verwiesen, daß «Evolution, Involution und die Schöpfung aus dem Nichts heraus, das ist …, was wir ins Auge fassen müssen, wenn wir die ganze Größe und Majestät menschlicher Entwickelung ins Auge fassen wollen.» Denn wenn die Anthroposophie und das menschliche Ich nicht zwei verschiedene Wesen sind, von denen das eine das andere womöglich bevormundet oder beherrscht, dann müssen beide wohl intimer verwandt sein, als wir uns vorstellen können. Dann ist nämlich die Anthroposophie selbst nichts anderes als die Selbst-Schöpfung des Ich aus dem Nichts seiner selbst. Auf das ‹Verstehen, Aufgreifen und Weiterführen› (Peter Selg) eines Gegebenen könnte man sich dann gerade nicht verlegen, auch nicht aufs bloße Behalten und Weitersagen. Sondern nur auf das schöpferische Erkennen. Und das beginnt im Nichts. Die moderne Biographie wäre demnach der Ort, an dem das Ich durch die ihm selbst eigenen Kräfte sich vernichtet, um durch die Kraft seiner Urwesenheit, des Denkens, zu sich selbst aufzuerstehen. Die Kraft des Denkens an dem Ort seiner Vernichtung aber stellte ihm die Anthroposophie Rudolf Steiners zur freien denkenden Verfügung. Naturgemäß lautete die Frage an den biographischen Ablauf des Lebens dann so: Inwiefern wird in einem Lebenslauf die Kraft ergriffen, aus welcher dieser Lebenslauf kommt und zu deren Bildung er hinstrebt? Und inwieweit ergreift einen Lebenslauf die Kraft, aus der er kommt zu der er hinstrebt? Die Antwort muß der Mensch sich selbst geben. Der Biograph kann ihn zu der Suche nach seiner eigenen Antwort anregen. Welche Anregung Peter Selg dazu einbringen will und kann, möchte dieser Beitrag kritisch erörtern.