Karen Swassjan
Europa, quo vadis? II
In Erinnerung an eine versäumte Genesung
(Urphänomene 1996/II)
Siehe, ich sage euch ein Geheimnis:
Wir werden nicht alle entschlafen,
wir werden aber alle verwandelt werden im Nu.
1. Kor. 15.51
Sie starben nicht alle, wurden aber alle geschlachtet.
Pestkranke Tiere.
Léon Bloy, Exégèse des lieux communs
1. Blumen des Bösen (deutsche Züchtung)
Es wäre keine undenkbare Konstellation, dem alten Kyniker und Hundefreund Dio-genes im Nachkriegsdeutschland zu begegnen, ohne daß der zerlumpte Mann in seiner Tonne inmitten der Trümmer allerdings besondere Aufmerksamkeit auf sich zöge. Man kann den Fall setzen, daß sich einzelne berühmte Topoi dieser vita auch in die deutsche Fassung 1945 übertragen lassen. Etwa jenes gymnasial obligate Pa-radebeispiel, demzufolge der drollige Kauz Tag für Tag mit dem Morgengrauen er-wacht, seine Laterne trotz des Tageslichtes anzündet und sich ächzend auf die Su-che macht, um sich durch die Frage des nächstbesten Passanten: «Was suchst du, o Diogenes?», zu seiner klassischen Antwort in gloriam philologiae aufwiegeln zu lassen: «Einen Menschen suche ich». Nicht daß es auf eine automatische Wieder-gabe dieser Antwort auch nach 1945 ankäme. Die deutsche Suche eines griechi-schen Kynikers hätte allemal konkreter und korrekter, ja vor allem situationsbeding-ter auszusehen. Frage: Was sucht man im Land der Dichter und Denker? Gegenfra-ge: Was kann im Land der Dichter und Denker gesucht werden, wenn nicht Leute, die, mit Verlaub, dichten und denken? Der Zyniker fischt im Trüben: Mit der Later-ne sucht er am hellen Tage in der Philosophenheimat Deutschland nach Männern, die würden denken können. Dürftige Fischerei des alten Gnatzes, der sich gefeit davor, allerlei gelehrten Termini auf den Leim zu gehen nun mit ein paar verreck-ten Gedankenattrappen zufriedengeben soll. Mit dem folgenden Knüller zum Bei-spiel: Keine Gedichte mehr nach Auschwitz! Oje! seufzt der Zyniker: Fürwahr kein schlechter Witz, wenn den Dichtern aufgehalst wird, die Suppe auszulöffeln, die ih-nen die Potentaten eingebrockt haben. Außerdem hat sich der Produzent dieser Pa-role sicherlich versprochen. Er spricht nämlich von Gedichten, die nicht mehr zu dichten seien, wo er eigentlich von Gedanken (generell) hätte sprechen sollen, die nicht mehr zu denken seien, was dann bedeuten würde: Keine Gedanken mehr nach Auschwitz. Auf beiden Schultern getragen: Weder Gedichte noch Gedanken. Frage: Was tut man, wenn man weder dichtet noch denkt? Antwort ex occidente: Man setzt den Marshall-Plan in die Tat um. Theologisch geredet: Die altfränkische Bibel-Schlange räumt, nachdem sie abgewirtschaftet hat, ihren Platz dem wohltätigen Drachen, dessen moderne Sündenfall-Fassung im Vergleich zu der klassischen zu-mindest den Vorzug hat, daß sie außer eines gesunden Appetits keiner weiteren An-strengung bedarf: Esset vom Baum des Konsums, und ihr werdet sein wie Gott (in Frankreich). Dem christlichen Abendland, soweit es seinen goetheanistischen Ex-odus nicht wahrhaben will, bleibt nur übrig, hinter der christlichen Camouflage einen mächtigen Gott anzubeten, dessen Name No problem ist. Das Abschiedscogito des Westens: Ich denke nicht, ergo: Da geht’s hoch her. Die Anamnese des Westens: political correctness. Die Todesursache des Westens: Darm- und Gehirnverschluß. Man greift, wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm, nach der folgenden Frage: Was aber, wenn einem nicht im Westen, sondern ausgerechnet im Land der Dichter und Denker zuteil wird, weder zu dichten noch zu denken? Die Antwort fällt wie ein Hammerschlag: Es heißt dann lediglich, umerzogen werden. Nach der Europa-Sintflut von 1945 beschließt die karitative Welt, dem Deutschen den folgenden Eid abzunehmen: Ich darf nunmehr weder dichten noch denken, weil mir das Unheil wurde, als Landsmann Adolf Hitlers geführt zu werden. War es doch ausgerechnet das deutsche Denken, das die Deutschen zu einem Volk von Mördern gemacht hat-te, wie aus mehreren hochkompetenten Gutachten folgt! Ich füge mich daher wider-standslos der Umerziehung und lasse mir folgende Lektion einpauken: Die ganze zivilisierte Welt mag mich mit Boykott belegen, solange ich mir nicht abgewöhne, (deutsch!) zu denken. Nanu! schnalzt der Mann mit der Laterne: Die Sache scheint hier doch etwas vertrackter zu sein als dazumal auf Kreta, wo es mir doch zum Teufel immerhin gelang, einem Kreter zu begegnen, der eben nicht log. Wieso, bei allen tollen Heiligen, muß ich gerade unter dem Volk der Denker jede Hoffnung aufgeben, auf eine einzige Mannsperson zu stoßen, mit der in diesem gottverdammten Land über die jüngsten Gesta Gottes nachzusinnen wäre!
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