Arfst Wagner
Zanoni und die Erlebnisse an der Schwelle
Die
Frage und Auseinandersetzung mit dem „Doppelgänger“-Phänomen kann man als einen
der „Schlüssel zu den versteckten Türen in den Wällen der Natur, die kein
Sterblicher passieren kann, ohne schreckliche Schildwachen aufzuwecken, die man
auf dieser Seite noch nie gesehen hatte“ (zit. nach: Jennings, S. 160)
bezeichnen. Der zitierte Satz stammt aus der Feder von Edward George
Bulwer-Lytton-Lytton (1803-1873), dem englischen Schriftsteller und Staatsmann.
Bulwer-Lytton-Lytton
ist einer der führenden Gestalten in der englischen esoterischen Tradition des
19. Jahrhunderts. Er schrieb unter anderem Werke wie „Die letzten Tage von
Pompeji“, „Rienzi“ und „Vril oder eine
Menschheit der Zukunft“. Letzteres wurde in den vergangenen Jahrzehnten immer
wieder vom Verlag am Goetheanum gedruckt. In dem Vorwort zu dieser Ausgabe
erwähnt der Übersetzer dieser deutschen Ausgabe von „Vril“, dass Rudolf Steiner
ihn auf den Autor aufmerksam gemacht habe: „Nach dem Ersten Weltkriege forderte
mich Rudolf Steiner auf, dieses Werk Bulwer-Lyttons ins Deutsche zu übersetzen.
Als ich ihm damals erwiderte, dass die Inhalte doch recht phantastische seien,
entgegnete er, dies sei nur scheinbar und zeitbedingt, in Wirklichkeit habe
Bulwer-Lytton im inneren Bilde richtig geschaut, was in der Evolution
potentiell veranlagt sei, insbesondere durch die zukünftige Entdeckung bisher
unbekannter Naturkräfte. Die Bilderwelt in Bulwer-Lyttons Werk sei teils als
Rückschau in verlorengegangene Fähigkeiten des Menschen in frühester Vorzeit
der `atlantischen Epoche´, insbesondere aber als Vorschau in künftige
Evolutionsphasen ein sehr wesentlicher Beitrag.“ (Bulwer-Lytton-Lytton: Vril,
S. 6).
Bulwer-Lytton-Lytton
hatte starken politischen Einfluß. Er war Unterhausmitglied, Staatssekretär und
Kolonialminister. Lennhof/Posner vermuten, dass er Freimaurer gewesen ist, eine
Frage, die bis heute nicht geklärt ist. (Lennhoff/Posner, S. 972 f.) Der Sohn
Bulwer-Lyttons, der Earl of Lytton, war von 1876-80 Vizekönig von Indien. Auch
ihn kennen wir als Schriftsteller unter dem Decknamen Owen Meredith. Außerdem
ist er Autor einer umfangreichen Biographie Bulwer-Lyttons, seines Vater, die
im Jahre 1913 unter dem Titel „Life of E. B., First Lord Lytton“ in 2 Bänden
erschien.
Wie viel wußte Bulwer-Lytton?
Der
Mensch hat einige Begleiter, von den er meist nichts ahnt. Bevor ich mich nun
Bulwer-Lyttons Roman „Zanoni“ zuwende, möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass
Bulwer-Lytton auch Helena Petrowna Blavatsky nicht unbekannt war. Im ersten
Band ihrer „Geheimlehre“ erwähnt sie Bulwer-Lytton-Lytton in einem
Zusammenhang, der mit der Thematik des „Zanoni“ in Zusammenhang steht. Sie
schreibt über einen der „menschlichen Begleiter“:
„Der
Stern, unter welchem eine menschliche Wesenheit geboren wird, sagt die okkulte
Lehre, wird für immer sein Stern bleiben während des ganzen Kreiskaufs der
Wiederverkörperungen . .... Aber dieses ist nicht sein astrologischer Stern.
Der letztere hat nur Bezug auf und Zusammenhang mit der Persönlichkeit.; der
erstere mit der Individualität. Der Engel dieses Sternes, oder der mit ihm
verbundene Dhyani-Buddha wird entweder der lenkende oder bloß der vorstehende
Engel, sozusagen, bei jeder neuen Wiedergeburt der Monade sein, die ein Teil
ist seiner eigenen Wesenheit, obwohl ihr Vehikel, der Mensch, für immer mit
dieser Tatsache unbekannt bleiben mag. Die Adepten haben einer jeder seinen
Dhyani-Buddha, seine ältere „Zwillingsseele“, und sie kennen dieselbe, nennen
sie „Vater-Seele“ und „Vater-Feuer“. Jedoch erst bei der letzten und höchsten
Initiation, wenn sie Angesicht zu Angesicht mit dem hellen „Bilde“ gestellt
werden, lernen sie es erkennen. Wie viel wußte Bulwer-Lytton-Lytton von dieser
mystischen Tatsache, als er, in einer seiner höchsten inspiratorischen
Stimmungen, Zanoni Angesicht zu Angesicht, mit seinem Augoeides beschrieb?“
(Blavatsky, S. 626)
Die Hüterin der Schwelle
In
dem Roman „Zanoni“ (Schwarzenburg 1980) finden sich mehrere Beschreibungen von
Doppelgänger-Erlebnissen. Die Geschichte selbst spielt in der Zeit der
französischen Revolution. Man vermeint, in den Vorgängen des Romans
rosenkreuzerische Einflüsse wahrzunehmen. Glyndon, die Hauptgestalt des Romans,
sucht die Unsterblichkeit. Die verschiedenen Gestalten des Romans stellen
Seelenkräfte dar, denen der geistig suchende Mensch auf dem Weg seiner
spirituellen Entwicklung in sich selbst begegnet. Es begegnen einem „die
Urgestalt des Lichts unseres tiefsten Seelengrundes; die unsterbliche Kraft der
höheren Erkenntnis; die sich himmelwärts sehnende, unsicher zwischen Zeit und
Ewigkeit flatternde Seele; die Hüterin der Schwelle als Königin des Totenreichs
und als schreckenerregender Dämon der Furcht sowie die ungeläuterte, frevelnde
Neugier einer unerwachten Seele“ (aus dem Klappentext der Ausgabe von 1980).
Die
Begegnung mit der Hüterin der Schwelle wird nun von Bulwer-Lytton-Lytton wie
folgt beschrieben:
Ein
„Gefühl von Kraft, Jugend, Freude und ätherischer Leichtigkeit, das er am
Morgen empfunden hatte, trat augenblicklich an die Stelle der tödlichen
Erstarrung, welche soeben in die Burg des Lebens eingedrungen war. Er stand mit
auf der Brust gekreuzten Armen aufrecht und unverzagt da, harrend, was da
kommen werde.
Der
Dunst hatte jetzt beinahe die Dichtigkeit und anscheinende Festigkeit einer
Schneewolke angenommen Die Lampen schienen wie Sterne durch. Und jetzt sah er
deutlich Gestalten, die in ihren Umrissen, Menschen glichen, langsam und mit regelmäßigen
Bewegungen durch die Wolke gleiten. Sie schienen blutlos; ihre Körper waren
durchsichtig und zusammengezogen oder ausgedehnt, wie die Ringe einer Schlange.
Als sie sich in majestätischer Ordnung dahin bewegten, hörte er einen leisen
Ton - gleichsam den Geist einer Stimme-, den jede von der anderen auffaßte und
wiederholte. Ein leiser, aber harmonischer Ton, der wie der Gesang einer
unaussprechlich ruhigen Freude schien. Keine dieser Erscheinungen beachtete
ihn. Sein lebhaftes Verlangen, sie anzureden, einer der Ihrigen zu werden, an
diesen Bewegungen ätherischen Glücks teilzunehmen (denn ein solches schien es
ihm), machte, dass er seine Arme ausstreckte und laut zu rufen versuchte, aber
nur ein unartikuliertes Flüstern kam über seine Lippen. Die Bewegungen und die
Musik gingen fort, als ob kein Sterblicher da wäre. Langsam schwebten sie im
Kreis umher und in die Höhe, bis sie in derselben majestätischen Ordnung einer
nach der anderen durch das Fenster schwebten und sich im Mondlicht verloren. Als
sein Auge ihnen folgte, wurde das Fenster von einem auf den ersten Blick nicht
zu unterscheidenden Etwas verdunkelt, das aber doch hinreichte, das zuvor
gefühlte Entzücken Glyndons geheimnisvoll in unsäglichen Schreck zu verwandeln.
Nach und nach nahm dieses Etwas für sein Auge Gestalt an. Es war wie ein mit
einem dunklen Schleier bedeckter Menschenkopf, aus welchem mit gelbem,
dämonischem Feuer Augen glotzten, die das Mark in seinen Gebeinen gefrieren
machten. Nichts sonst war von dem Gesichte zu unterscheiden, nichts als diese
unerträglichen Augen. Aber sein Grauen, das im Anfang die Kräfte der
menschlichen Natur zu erschöpfen schien, wurde noch tausendfach verkehrt, als
das Phantom nach einer Weile langsam ins Zimmer hineinglitt. Die Wolke zog sich
vor ihm zurück, während es vorwärts kam. Die hellen Lampen wurden matt und
flackerten unruhig, wie infolge der Gegenwart seines Hauches. Seine Gestalt war
wie das Gesicht verschleiert, aber der Umriß war der eines weiblichen Wesens.
Jedoch es bewegte sich nicht, wie sich selbst Geister bewegen, welche sich
lebend stellen. Es schien eher wie ein ungeheures, mißgestaltetes Gewürm zu
kriechen. Als es endlich stillestand, kauerte es sich neben dem Tische nieder,
auf welchem das mystische Buch lag, und heftete wieder seine Augen durch den
dunstigen Schleier auf den vorschnellen Beschwörer. Alle Phantasien, selbst die
groteskesten von Mönch und Maler des Nordens der alten Zeit, wären nicht
imstande gewesen, dem Gesicht eines Teufels oder Kobolds diesen Ausdruck tödlicher
Bosheit zu geben, welcher aus diesen Augen allein zu der schaudernden Natur
sprach. Alles andere so dunkel, verhüllt, verschleiert und larvenähnlich. Aber
dieser brennende, durchdringende, gelbe und doch lebendige Blick hatte etwas
ansich, dass in seinem leidenschaftlichen Haß und Hohn beinahe menschlich nu nennen war, etwas, das
zeigte, dass der schattenhafte Schrecken nicht ganz nur Geist war, sondern
wenigstens genug Materie an sich hatte, um für materielle Wesen ein noch
tödlicherer und furchtbarerer Feind zu sein. Als er, mit krampfhafter
Anstrengung der Todesangst an der Mauer sich haltend, mit gesträubten Haaren,
mit herausgetriebenen Augäpfeln immer noch nach dem erschrecklichen Auge
zurückblickte, sprach das Phantom zu ihm. Seine Seele mehr als sein Ohr
verstand die Worte, die es sprach.
`Du
bist in das unermeßliche Reich eingedrungen. Ich bin die Hüterin der Schwelle.
Was willst du von mir? Du schweigst? Fürchtest du mich? Bin ich nicht deine
Geliebte? Hast du nicht um meinetwillen den Freuden deines Geschlechts entsagt?
Möchtest du weise werden? Mein ist die Weisheit zahlloser Jahrhunderte. Küsse
mich, mein sterblicher Geliebter!´ Der Greuel kroch näher und näher zu ihm,
kroch an seine Seite, sein Atem berührte seine Wange! Mit einem gellenden Schrei
fiel er bewußtlos zu Boden und wußte nichts mehr von sich, bis er am hohen
Mittag des nächsten Tages seine Augen öffnete und sich in seinem Bette fand.
Die herrliche Sonne strömte durch das Gitterfenster und der Bandit Paolo saß
neben ihm, putzte seinen Karabiner blank und pfiff ein kalabresisches
Lieblingslied.“ (S. 259 f.)
Rudolf
Steiner beschreibt Bulwer-Lytton-Lytton als einen Menschen, an dem man sehen
kann, „wie der Mensch dem Leben gegenüber sich dann verhält, wenn er im Inneren
eben diese andersgeartete Welt nicht bloß in Begriffen aufnimmt, sondern in die
ganze Seelenverfassung, eben in das ganze innere Erleben. Man muß dann manches
ganz anders beurteilen, als es nach dem Maßstabe der gewöhnlichen Philisterei
geschehen kann.“(Steiner, S. 17) Der tiefe Blick in die spirituelle menschliche
Entwicklung., wie ihn Bulwer-Lytton vor unseren Augen in seinem „Zanoni“
ausbreitet, ist wegen ihrer zum Teil erschreckenden Konsequenz unheimlich
anrührend. Wer die spirituellen Probleme verschlafen möchte, der wird diese
Darstellungen möglicherweise sogar anstößig finden. Das tut aber der inneren
Wahrheit der Schilderungen keinen Abbruch.
Warum sträubt sich dein Haar?
Im
Roman „Zanoni“ versucht Glyndon nun, seine erschütternden Erfahrungen durch
künstlerische Betätigung zu verarbeiten. Das ägyptische Gericht der Lebenden
über die Toten aus dem 1. Buch von Diodor inspiriert ihn zu einer Darstellung.
Bulwer-Lytton-Lytton schreibt:
„Wunderbarer,
inbrünstiger Eifer, o Künstler, der plötzlich aus den Nebeln und aus dem Dunkel
hervorbricht, welche die verborgene Wissenschaft so lange über deine Phantasie
gebreitet hatte! Wunderbar, dass die Rückwirkung der Schrecknisse der Nacht und
der Enttäuschung des Tages dich zu deiner heiligen Kunst zurückführt! Ha, wie
frei zeichnet die kühne Hand die großen Umrisse! Wie spricht trotz dieses rohen
Materials daraus nicht mehr der Lehrling, sondern der Meister! Wie verleihst
du, noch frisch glühend von dem herrlichen Elixier, deinen Gestalten das dir
selbst versagte höhere Leben! - Eine Macht, die dir nicht angeboren ist,
schreibt die großen Symbole an die Mauer. Im Hintergrund erhebt sich das
mächtige Grab, ein Ruheplatz der Toten, bei dessen Auftürmung die Leben von
Tausenden sich verzehrten. Dort sitzen in einem Halbkreis die ersten Meister.
Schwarz und schwerfällig wallt der See. Hier liegt de einbalsamierte königliche
Tote. Zitterst du bei den Falten seiner leblosen Stirne? Ha! Gut gemacht,
Künstler! Auf stehen die hohläugigen Gestalten. Blaß drohen die gespenstischen
Gesichter! Soll nicht die Menschlichkeit nach dem Tode sich rächen an der
Macht? Deine Idee, Clarence Glyndon, ist erhabene Wahrheit; deine Zeichnung
verheißt dem Genie Ruhm. Besser diese Magie, als die Zauber des Buchs und des
Gefäßes. Stunde um Stunde ist verstrichen, du hast die Lampe angezündet, die
Nacht findet dich noch an deiner Arbeit. Barmherziger Himmel, was erkältet die
Luft? Warum brennt die Lampe so matt? Warum sträubt sich dein Haar? Da! ...da!
---da! Am Fenster! ... Es starrt nach dir, das finstere, in einen Mantel
gehüllte, entsetzliche Wesen! Da, mit ihrem teuflischen Hohne, mit ihrer
häßlichen Tücke glotzen dich diese scheußlichen Augen an!
Er
stand und stierte hin. Es war keine Täuschung, es sprach nicht, bewegte sich
nicht, bis er, unfähig, diese durchbohrenden brennenden Blicke noch länger zu
ertragen, sein Gesicht mit den Händen bedeckte. Mit einem Schreck, einem
Schauer zog er sie wieder weg, er fühlte die größere Nähe des namenlosen
Wesens. Da kauerte es am Boden neben seiner Zeichnung. Und siehe! Die Gestalten
schienen aus der Wand hervorzutreten! Diese blassen, anklagenden Gesichter, die
Gestalten, die er selbst geschaffen, sahen ihn finster an und zischelten. Mit
einer gewaltigen Anstrengung, die sein ganzes Wesen in eine konvulsivische
Aufregung brachte und seinen Körper mit dem Schweiß des Todeskampfes übergoß,
überwältigte der junge Mann sein Entsetzen. Er ging auf das Phantom zu, hielt
seinen Blick aus. Er redete es mit fester Stimme an, er fragte, was es wolle,
und bot seiner Macht Trotz.
Da
ertönte seine Stimme wie der Wind aus einem Totenhause. Was es sagte, was es
offenbarte, ist dem Munde zu wiederholen, der Hand aufzuzeichnen verboten. Nur
das feine Leben, das noch in dem Körper glühte, dem das Einatmen des Elixiers
Stärke und Tatkraft verlieh, wie sie der Kräftigste nicht hatte, konnte diese
schreckliche Stunde überleben. Lieber in den Katakomben wachen und die
Begrabenen aus ihren Wachsleinwandtüchern aufstehen sehen und die Geister bei
ihren scheußlichen Orgien hören unter den Geisterschauern modernden Verwesung,
als diesen Zügen gegenüberstehen, wenn der Schleier zurückgeschlagen war, und
das Flüstern dieser Stimme hören!
Am
anderen Tage floh Glyndon aus dem zerfallenen Schlosse. Mit welchen Hoffnungen
war er über die Schwelle geschritten! Mit welchen Erinnerungen, die ihn immer
vor der Finsternis schauern machten, blickte er zurück nach seinen düsteren,
von der Zeit zernagten Türmen!“ (276 ff.)
Am Grenzlande des Unsichtbaren
Die
beiden hier zitierten Schilderungen Edward Bulwer-Lytton-Lyttons aus seinem
Roman „Zanoni“können als eine Begegnung Glyndons mit dem eigenen Doppelgänger
auf der Schwelle zur geistigen Welt gedeutet werden. Darin folge ich den
Ausführungen eines anderen englischen Okkultisten, C. G. Harrison, der über sie
wie folgt in einem Vortrag gesprochen hat:
„Die
abenteuerlichsten Begriffe herrschen in Betreff des `Hüters der Schwelle´,
welche wahrscheinlich aus einer zu buchstäblichen Deutung der Erfahrungen
Glyndons in der herrlichen Allegorie „Zanoni“ hervorgegangen sind, oder lassen
sie mich lieber sagen, in der herrlichen Parabel der menschlichen Sehnsucht
nach dem Ideale.“ Bulwer-Lytton-Lytton „gibt jedoch zu, dass unter den
Geschichten, die er erzählt, typische Bedeutungen verborgen sind. Er wollte
sicherlich nicht sagen, dass eine verschleierte Gestalt, deren Augen in
dämonischem Feuer glänzen, dem tatsächlichen Blicke, weder dem normalen, noch
dem hellsichtigen, erscheint. In dem Falle Glyndons war es der Teufel seiner
eigenen ruchlosen Begierden, welcher in dem Lichte, das auf ihn blitzte im
Augenblicke, in welchem er die Schwelle überschritt, ihn erblassen machte,
indem er ihm, in ihrer ganzen ursprünglichen Scheußlichkeit, die nahe
Verwandtschaft offenbarte, welche zwischen den, aus der Verderbnis seiner
eigenen niedereren Natur geborenen Kräften und den zerstörenden Kräften des
Planeten bestand, und die ein verhängnisvolles Anziehungsband zwischen ihm und
den bösen Dienern von Krankheit und Tod bildete. Und darauf kam die Versuchung,
welche nach den Worten Zanonis den Lippen verboten ist auszusprechen und der
Hand niederzuschreiben. Doch kann sie in einer Analogie erläutert werden: Es
ist ein Leichtes, quer über den Boden eines Zimmers zwischen zwei parallelen,
sechs Zoll voneinander entfernten Kreidestrichen zu gehen. Es erfordert großen
Mut und Nervenstärke, um einen Abgrund auf einem sechs Zoll breiten Brette zu
überschreiten. Die Versuchung, einen Fehltritt zu machen, scheint fast
unwiderstehlich und wird von solchen, die das Kunststück ausgeführt haben, als
instinktives Bestreben geschildert, dem Hange, von einer Seite zur andern zu
schwanken, entgegenzuwirken, welcher die natürliche Wirkung der raschen
Zusammenziehens und Wieder-Zusammenziehens des, durch die entfernten
Einzelheiten in der Tiefe beeinflußten Auges ist. In gleicher Weise führt die
Schwierigkeit, zwischen Blendwerk und Wirklichkeit nahe am Grenzlande des
Unsichtbaren dazu, das geistige Gleichgewicht zu stören. Die Empfindung
feindlicher Einflüsse (deren Natur in der Sinneswelt nur durch ihre Wirkung
offenbar wird) in ihrer vollen nackten Wirklichkeit hat für den, dessen niedere
Natur nicht durch Zucht (Selbsterziehung. A.W.) geläutert ist, einen
furchtbaren Zauber. Wie ein Ertrinkender im Augenblicke, bevor er das Bewußtsein
verliert, sein früheres Leben, wie in einem Panorama, rasch an sich
vorüberziehen sieht, so erscheint dem, der die Schwelle überschreitet, jeder
schlechte Gedanke, dessen er fähig ist, gleichviel ob er in die Tat umgesetzt
ist oder nicht, als ein von Händen ergriffener Strick, um ihn in den Abgrund
herabzuziehen. Es gibt keine solchen Stricke, aber die Lage ist unerträglich
grauenhaft, wenn man sie zum ersten Male durchmacht. Geistesgegenwart ist
jedoch alles, was erforderlich ist.“ (Harrison, S. 40 f.)
Nicht Unwissenheit, sondern mehr Wissen
Seitdem
Bulwer-Lytton-Lytton seinen Roman „Zanoni“ geschrieben hat, sind eineinhalb
Jahrhunderte vergangen. Ihre Aktualität hat seither zugenommen. Fragt man sich,
wieso es heute eine solche Unmenge von Filmen gibt, die schaurige geistige
Ereignisse oder Science Fiktion zum Inhalt haben, man denke hier zum Beispiel
an die Filme eines Stephen King oder der von dem Crowley-Schüler Giger
ausgestatteten „Alien“-Filme, so erkennen wir diese Filminhalte als geistige
Schwellenerlebnisse. Die Filme bieten allerdings zumeist keine Hilfen zur
Verarbeitung dieser Erlebnisse. Harrison weist in seinen erwähnten Vorträgen
darauf hin, dass die Menschen zwei Möglichkeiten haben, die Schwelle zu
überschreiten: bewußt oder unbewußt. Gehen sie unbewußt und ohne
Unterscheidungsvermögen und Geistesgegenwart über die Schwelle, dann wäre es
besser, „am Delirium tremens zu sterben, als unter den Einfluß der Tausend und
Ein trüglichen Gespenster zu geraten, welche den Rückweg in die Sinnenwelt besetzen.“
(Harrison, S.41) „Wenn `wenig wissen eine Gefahr ist´, liegt das Gegenmittel
sicher nicht in Unwissenheit, sondern in mehr Wissen.“ (Harrison, S. 7)
Und
Rudolf Steiner beurteilt Edward Bulwer-Lytton-Lytton wie folgt: „Es wie die
Menschheit von dem Grade der Philistrosität, in den sie hineingewachsen ist,
nicht viel, und immer weniger weiß sie davon, weil diese ein Naturgemäßes wird.
Man sieht nur das als vernünftig an, wie man sich nun eben jetzt `benimmt´.
Aber die Dinge im Leben hängen zusammen, und die moderne Trockenheit und
Schläfrigkeit, die moderne Art, von Mensch zu Mensch sich zu verhalten, gehört
als Folge zu der intellektualistischen Entwickelung der letzten Jahrhunderte.
Beide Dinge gehören zusammen. Solch ein Mensch wie Bulwer-Lytton-Lytton paßt da
natürlich an sich nicht hinein. ... Man muß nur den Abstand der einen
Seelenverfassung von der anderen im richtigen Lichte sehen, dann wird einem so
etwas doch auch im richtigen Lichte erscheinen können. Aber es war bei
Bulwer-Lytton-Lytton so, weil in ihm etwas aufleuchtete, was so unmittelbar
nicht da sein konnte in der modernen intellektualistische Zeit, sondern nur als
Tradition.“(Steiner, S. 18)
Literatur:
Blavatsky,
H. P.: Die Geheimlehre. Band I: Kosmogenesis. Den Haag o.J.
Bulwer-Lytton-Lytton,
Edward: Vril oder Eine Menschheit der Zukunft. Dornach 1958.
Bulwer-Lytton-Lytton:
Zanoni. Die sieben Stufen der Einweihung, der Liebe und des Opfers. Schwarzenburg 1980.
Harrison,
C. G.: Das transcendentale Weltenall. O.O. 1897
Jennings,
H.: Die Rosenkreuzer - Ihre Gebräuche und Mythen. Berlin 1912.
Lennhoff,
Eugen/Posner, Oskar: Internationales Freimaurerlexikon. Wien 1932.
Steiner,
Rudolf: Anthroposophie als Kosmosophie. 1.Teil. GA 207. Dornach 1981.
Aus: Flensburger Hefte Nr. 65/1999: „Doppelgänger – der Mensch und sein Schatten“.
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