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Arfst Wagner

Zanoni und die Erlebnisse an der Schwelle

Die Frage und Auseinandersetzung mit dem „Doppelgänger“-Phänomen kann man als einen der „Schlüssel zu den versteckten Türen in den Wällen der Natur, die kein Sterblicher passieren kann, ohne schreckliche Schildwachen aufzuwecken, die man auf dieser Seite noch nie gesehen hatte“ (zit. nach: Jennings, S. 160) bezeichnen. Der zitierte Satz stammt aus der Feder von Edward George Bulwer-Lytton-Lytton (1803-1873), dem englischen Schriftsteller und Staatsmann.

Bulwer-Lytton-Lytton ist einer der führenden Gestalten in der englischen esoterischen Tradition des 19. Jahrhunderts. Er schrieb unter anderem Werke wie „Die letzten Tage von Pompeji“, „Rienzi“ und  „Vril oder eine Menschheit der Zukunft“. Letzteres wurde in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder vom Verlag am Goetheanum gedruckt. In dem Vorwort zu dieser Ausgabe erwähnt der Übersetzer dieser deutschen Ausgabe von „Vril“, dass Rudolf Steiner ihn auf den Autor aufmerksam gemacht habe: „Nach dem Ersten Weltkriege forderte mich Rudolf Steiner auf, dieses Werk Bulwer-Lyttons ins Deutsche zu übersetzen. Als ich ihm damals erwiderte, dass die Inhalte doch recht phantastische seien, entgegnete er, dies sei nur scheinbar und zeitbedingt, in Wirklichkeit habe Bulwer-Lytton im inneren Bilde richtig geschaut, was in der Evolution potentiell veranlagt sei, insbesondere durch die zukünftige Entdeckung bisher unbekannter Naturkräfte. Die Bilderwelt in Bulwer-Lyttons Werk sei teils als Rückschau in verlorengegangene Fähigkeiten des Menschen in frühester Vorzeit der `atlantischen Epoche´, insbesondere aber als Vorschau in künftige Evolutionsphasen ein sehr wesentlicher Beitrag.“ (Bulwer-Lytton-Lytton: Vril, S. 6).

 

Bulwer-Lytton-Lytton hatte starken politischen Einfluß. Er war Unterhausmitglied, Staatssekretär und Kolonialminister. Lennhof/Posner vermuten, dass er Freimaurer gewesen ist, eine Frage, die bis heute nicht geklärt ist. (Lennhoff/Posner, S. 972 f.) Der Sohn Bulwer-Lyttons, der Earl of Lytton, war von 1876-80 Vizekönig von Indien. Auch ihn kennen wir als Schriftsteller unter dem Decknamen Owen Meredith. Außerdem ist er Autor einer umfangreichen Biographie Bulwer-Lyttons, seines Vater, die im Jahre 1913 unter dem Titel „Life of E. B., First Lord Lytton“ in 2 Bänden erschien.

 

Wie viel wußte Bulwer-Lytton?

Der Mensch hat einige Begleiter, von den er meist nichts ahnt. Bevor ich mich nun Bulwer-Lyttons Roman „Zanoni“ zuwende, möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass Bulwer-Lytton auch Helena Petrowna Blavatsky nicht unbekannt war. Im ersten Band ihrer „Geheimlehre“ erwähnt sie Bulwer-Lytton-Lytton in einem Zusammenhang, der mit der Thematik des „Zanoni“ in Zusammenhang steht. Sie schreibt über einen der „menschlichen Begleiter“:

„Der Stern, unter welchem eine menschliche Wesenheit geboren wird, sagt die okkulte Lehre, wird für immer sein Stern bleiben während des ganzen Kreiskaufs der Wiederverkörperungen . .... Aber dieses ist nicht sein astrologischer Stern. Der letztere hat nur Bezug auf und Zusammenhang mit der Persönlichkeit.; der erstere mit der Individualität. Der Engel dieses Sternes, oder der mit ihm verbundene Dhyani-Buddha wird entweder der lenkende oder bloß der vorstehende Engel, sozusagen, bei jeder neuen Wiedergeburt der Monade sein, die ein Teil ist seiner eigenen Wesenheit, obwohl ihr Vehikel, der Mensch, für immer mit dieser Tatsache unbekannt bleiben mag. Die Adepten haben einer jeder seinen Dhyani-Buddha, seine ältere „Zwillingsseele“, und sie kennen dieselbe, nennen sie „Vater-Seele“ und „Vater-Feuer“. Jedoch erst bei der letzten und höchsten Initiation, wenn sie Angesicht zu Angesicht mit dem hellen „Bilde“ gestellt werden, lernen sie es erkennen. Wie viel wußte Bulwer-Lytton-Lytton von dieser mystischen Tatsache, als er, in einer seiner höchsten inspiratorischen Stimmungen, Zanoni Angesicht zu Angesicht, mit seinem Augoeides beschrieb?“ (Blavatsky, S. 626)

 

Die Hüterin der Schwelle

In dem Roman „Zanoni“ (Schwarzenburg 1980) finden sich mehrere Beschreibungen von Doppelgänger-Erlebnissen. Die Geschichte selbst spielt in der Zeit der französischen Revolution. Man vermeint, in den Vorgängen des Romans rosenkreuzerische Einflüsse wahrzunehmen. Glyndon, die Hauptgestalt des Romans, sucht die Unsterblichkeit. Die verschiedenen Gestalten des Romans stellen Seelenkräfte dar, denen der geistig suchende Mensch auf dem Weg seiner spirituellen Entwicklung in sich selbst begegnet. Es begegnen einem „die Urgestalt des Lichts unseres tiefsten Seelengrundes; die unsterbliche Kraft der höheren Erkenntnis; die sich himmelwärts sehnende, unsicher zwischen Zeit und Ewigkeit flatternde Seele; die Hüterin der Schwelle als Königin des Totenreichs und als schreckenerregender Dämon der Furcht sowie die ungeläuterte, frevelnde Neugier einer unerwachten Seele“ (aus dem Klappentext der Ausgabe von 1980).

Die Begegnung mit der Hüterin der Schwelle wird nun von Bulwer-Lytton-Lytton wie folgt beschrieben:

Ein „Gefühl von Kraft, Jugend, Freude und ätherischer Leichtigkeit, das er am Morgen empfunden hatte, trat augenblicklich an die Stelle der tödlichen Erstarrung, welche soeben in die Burg des Lebens eingedrungen war. Er stand mit auf der Brust gekreuzten Armen aufrecht und unverzagt da, harrend, was da kommen werde.

Der Dunst hatte jetzt beinahe die Dichtigkeit und anscheinende Festigkeit einer Schneewolke angenommen Die Lampen schienen wie Sterne durch. Und jetzt sah er deutlich Gestalten, die in ihren Umrissen, Menschen glichen, langsam und mit regelmäßigen Bewegungen durch die Wolke gleiten. Sie schienen blutlos; ihre Körper waren durchsichtig und zusammengezogen oder ausgedehnt, wie die Ringe einer Schlange. Als sie sich in majestätischer Ordnung dahin bewegten, hörte er einen leisen Ton - gleichsam den Geist einer Stimme-, den jede von der anderen auffaßte und wiederholte. Ein leiser, aber harmonischer Ton, der wie der Gesang einer unaussprechlich ruhigen Freude schien. Keine dieser Erscheinungen beachtete ihn. Sein lebhaftes Verlangen, sie anzureden, einer der Ihrigen zu werden, an diesen Bewegungen ätherischen Glücks teilzunehmen (denn ein solches schien es ihm), machte, dass er seine Arme ausstreckte und laut zu rufen versuchte, aber nur ein unartikuliertes Flüstern kam über seine Lippen. Die Bewegungen und die Musik gingen fort, als ob kein Sterblicher da wäre. Langsam schwebten sie im Kreis umher und in die Höhe, bis sie in derselben majestätischen Ordnung einer nach der anderen durch das Fenster schwebten und sich im Mondlicht verloren. Als sein Auge ihnen folgte, wurde das Fenster von einem auf den ersten Blick nicht zu unterscheidenden Etwas verdunkelt, das aber doch hinreichte, das zuvor gefühlte Entzücken Glyndons geheimnisvoll in unsäglichen Schreck zu verwandeln. Nach und nach nahm dieses Etwas für sein Auge Gestalt an. Es war wie ein mit einem dunklen Schleier bedeckter Menschenkopf, aus welchem mit gelbem, dämonischem Feuer Augen glotzten, die das Mark in seinen Gebeinen gefrieren machten. Nichts sonst war von dem Gesichte zu unterscheiden, nichts als diese unerträglichen Augen. Aber sein Grauen, das im Anfang die Kräfte der menschlichen Natur zu erschöpfen schien, wurde noch tausendfach verkehrt, als das Phantom nach einer Weile langsam ins Zimmer hineinglitt. Die Wolke zog sich vor ihm zurück, während es vorwärts kam. Die hellen Lampen wurden matt und flackerten unruhig, wie infolge der Gegenwart seines Hauches. Seine Gestalt war wie das Gesicht verschleiert, aber der Umriß war der eines weiblichen Wesens. Jedoch es bewegte sich nicht, wie sich selbst Geister bewegen, welche sich lebend stellen. Es schien eher wie ein ungeheures, mißgestaltetes Gewürm zu kriechen. Als es endlich stillestand, kauerte es sich neben dem Tische nieder, auf welchem das mystische Buch lag, und heftete wieder seine Augen durch den dunstigen Schleier auf den vorschnellen Beschwörer. Alle Phantasien, selbst die groteskesten von Mönch und Maler des Nordens der alten Zeit, wären nicht imstande gewesen, dem Gesicht eines Teufels oder Kobolds diesen Ausdruck tödlicher Bosheit zu geben, welcher aus diesen Augen allein zu der schaudernden Natur sprach. Alles andere so dunkel, verhüllt, verschleiert und larvenähnlich. Aber dieser brennende, durchdringende, gelbe und doch lebendige Blick hatte etwas ansich, dass in seinem leidenschaftlichen Haß und Hohn beinahe menschlich nu nennen war, etwas, das zeigte, dass der schattenhafte Schrecken nicht ganz nur Geist war, sondern wenigstens genug Materie an sich hatte, um für materielle Wesen ein noch tödlicherer und furchtbarerer Feind zu sein. Als er, mit krampfhafter Anstrengung der Todesangst an der Mauer sich haltend, mit gesträubten Haaren, mit herausgetriebenen Augäpfeln immer noch nach dem erschrecklichen Auge zurückblickte, sprach das Phantom zu ihm. Seine Seele mehr als sein Ohr verstand die Worte, die es sprach.

`Du bist in das unermeßliche Reich eingedrungen. Ich bin die Hüterin der Schwelle. Was willst du von mir? Du schweigst? Fürchtest du mich? Bin ich nicht deine Geliebte? Hast du nicht um meinetwillen den Freuden deines Geschlechts entsagt? Möchtest du weise werden? Mein ist die Weisheit zahlloser Jahrhunderte. Küsse mich, mein sterblicher Geliebter!´ Der Greuel kroch näher und näher zu ihm, kroch an seine Seite, sein Atem berührte seine Wange! Mit einem gellenden Schrei fiel er bewußtlos zu Boden und wußte nichts mehr von sich, bis er am hohen Mittag des nächsten Tages seine Augen öffnete und sich in seinem Bette fand. Die herrliche Sonne strömte durch das Gitterfenster und der Bandit Paolo saß neben ihm, putzte seinen Karabiner blank und pfiff ein kalabresisches Lieblingslied.“ (S. 259 f.)

Rudolf Steiner beschreibt Bulwer-Lytton-Lytton als einen Menschen, an dem man sehen kann, „wie der Mensch dem Leben gegenüber sich dann verhält, wenn er im Inneren eben diese andersgeartete Welt nicht bloß in Begriffen aufnimmt, sondern in die ganze Seelenverfassung, eben in das ganze innere Erleben. Man muß dann manches ganz anders beurteilen, als es nach dem Maßstabe der gewöhnlichen Philisterei geschehen kann.“(Steiner, S. 17) Der tiefe Blick in die spirituelle menschliche Entwicklung., wie ihn Bulwer-Lytton vor unseren Augen in seinem „Zanoni“ ausbreitet, ist wegen ihrer zum Teil erschreckenden Konsequenz unheimlich anrührend. Wer die spirituellen Probleme verschlafen möchte, der wird diese Darstellungen möglicherweise sogar anstößig finden. Das tut aber der inneren Wahrheit der Schilderungen keinen Abbruch.

 

Warum sträubt sich dein Haar?

Im Roman „Zanoni“ versucht Glyndon nun, seine erschütternden Erfahrungen durch künstlerische Betätigung zu verarbeiten. Das ägyptische Gericht der Lebenden über die Toten aus dem 1. Buch von Diodor inspiriert ihn zu einer Darstellung. Bulwer-Lytton-Lytton schreibt:

„Wunderbarer, inbrünstiger Eifer, o Künstler, der plötzlich aus den Nebeln und aus dem Dunkel hervorbricht, welche die verborgene Wissenschaft so lange über deine Phantasie gebreitet hatte! Wunderbar, dass die Rückwirkung der Schrecknisse der Nacht und der Enttäuschung des Tages dich zu deiner heiligen Kunst zurückführt! Ha, wie frei zeichnet die kühne Hand die großen Umrisse! Wie spricht trotz dieses rohen Materials daraus nicht mehr der Lehrling, sondern der Meister! Wie verleihst du, noch frisch glühend von dem herrlichen Elixier, deinen Gestalten das dir selbst versagte höhere Leben! - Eine Macht, die dir nicht angeboren ist, schreibt die großen Symbole an die Mauer. Im Hintergrund erhebt sich das mächtige Grab, ein Ruheplatz der Toten, bei dessen Auftürmung die Leben von Tausenden sich verzehrten. Dort sitzen in einem Halbkreis die ersten Meister. Schwarz und schwerfällig wallt der See. Hier liegt de einbalsamierte königliche Tote. Zitterst du bei den Falten seiner leblosen Stirne? Ha! Gut gemacht, Künstler! Auf stehen die hohläugigen Gestalten. Blaß drohen die gespenstischen Gesichter! Soll nicht die Menschlichkeit nach dem Tode sich rächen an der Macht? Deine Idee, Clarence Glyndon, ist erhabene Wahrheit; deine Zeichnung verheißt dem Genie Ruhm. Besser diese Magie, als die Zauber des Buchs und des Gefäßes. Stunde um Stunde ist verstrichen, du hast die Lampe angezündet, die Nacht findet dich noch an deiner Arbeit. Barmherziger Himmel, was erkältet die Luft? Warum brennt die Lampe so matt? Warum sträubt sich dein Haar? Da! ...da! ---da! Am Fenster! ... Es starrt nach dir, das finstere, in einen Mantel gehüllte, entsetzliche Wesen! Da, mit ihrem teuflischen Hohne, mit ihrer häßlichen Tücke glotzen dich diese scheußlichen Augen an!

Er stand und stierte hin. Es war keine Täuschung, es sprach nicht, bewegte sich nicht, bis er, unfähig, diese durchbohrenden brennenden Blicke noch länger zu ertragen, sein Gesicht mit den Händen bedeckte. Mit einem Schreck, einem Schauer zog er sie wieder weg, er fühlte die größere Nähe des namenlosen Wesens. Da kauerte es am Boden neben seiner Zeichnung. Und siehe! Die Gestalten schienen aus der Wand hervorzutreten! Diese blassen, anklagenden Gesichter, die Gestalten, die er selbst geschaffen, sahen ihn finster an und zischelten. Mit einer gewaltigen Anstrengung, die sein ganzes Wesen in eine konvulsivische Aufregung brachte und seinen Körper mit dem Schweiß des Todeskampfes übergoß, überwältigte der junge Mann sein Entsetzen. Er ging auf das Phantom zu, hielt seinen Blick aus. Er redete es mit fester Stimme an, er fragte, was es wolle, und bot seiner Macht Trotz.

Da ertönte seine Stimme wie der Wind aus einem Totenhause. Was es sagte, was es offenbarte, ist dem Munde zu wiederholen, der Hand aufzuzeichnen verboten. Nur das feine Leben, das noch in dem Körper glühte, dem das Einatmen des Elixiers Stärke und Tatkraft verlieh, wie sie der Kräftigste nicht hatte, konnte diese schreckliche Stunde überleben. Lieber in den Katakomben wachen und die Begrabenen aus ihren Wachsleinwandtüchern aufstehen sehen und die Geister bei ihren scheußlichen Orgien hören unter den Geisterschauern modernden Verwesung, als diesen Zügen gegenüberstehen, wenn der Schleier zurückgeschlagen war, und das Flüstern dieser Stimme hören!

Am anderen Tage floh Glyndon aus dem zerfallenen Schlosse. Mit welchen Hoffnungen war er über die Schwelle geschritten! Mit welchen Erinnerungen, die ihn immer vor der Finsternis schauern machten, blickte er zurück nach seinen düsteren, von der Zeit zernagten Türmen!“ (276 ff.)

 

Am Grenzlande des Unsichtbaren

Die beiden hier zitierten Schilderungen Edward Bulwer-Lytton-Lyttons aus seinem Roman „Zanoni“können als eine Begegnung Glyndons mit dem eigenen Doppelgänger auf der Schwelle zur geistigen Welt gedeutet werden. Darin folge ich den Ausführungen eines anderen englischen Okkultisten, C. G. Harrison, der über sie wie folgt in einem Vortrag gesprochen hat:

„Die abenteuerlichsten Begriffe herrschen in Betreff des `Hüters der Schwelle´, welche wahrscheinlich aus einer zu buchstäblichen Deutung der Erfahrungen Glyndons in der herrlichen Allegorie „Zanoni“ hervorgegangen sind, oder lassen sie mich lieber sagen, in der herrlichen Parabel der menschlichen Sehnsucht nach dem Ideale.“ Bulwer-Lytton-Lytton „gibt jedoch zu, dass unter den Geschichten, die er erzählt, typische Bedeutungen verborgen sind. Er wollte sicherlich nicht sagen, dass eine verschleierte Gestalt, deren Augen in dämonischem Feuer glänzen, dem tatsächlichen Blicke, weder dem normalen, noch dem hellsichtigen, erscheint. In dem Falle Glyndons war es der Teufel seiner eigenen ruchlosen Begierden, welcher in dem Lichte, das auf ihn blitzte im Augenblicke, in welchem er die Schwelle überschritt, ihn erblassen machte, indem er ihm, in ihrer ganzen ursprünglichen Scheußlichkeit, die nahe Verwandtschaft offenbarte, welche zwischen den, aus der Verderbnis seiner eigenen niedereren Natur geborenen Kräften und den zerstörenden Kräften des Planeten bestand, und die ein verhängnisvolles Anziehungsband zwischen ihm und den bösen Dienern von Krankheit und Tod bildete. Und darauf kam die Versuchung, welche nach den Worten Zanonis den Lippen verboten ist auszusprechen und der Hand niederzuschreiben. Doch kann sie in einer Analogie erläutert werden: Es ist ein Leichtes, quer über den Boden eines Zimmers zwischen zwei parallelen, sechs Zoll voneinander entfernten Kreidestrichen zu gehen. Es erfordert großen Mut und Nervenstärke, um einen Abgrund auf einem sechs Zoll breiten Brette zu überschreiten. Die Versuchung, einen Fehltritt zu machen, scheint fast unwiderstehlich und wird von solchen, die das Kunststück ausgeführt haben, als instinktives Bestreben geschildert, dem Hange, von einer Seite zur andern zu schwanken, entgegenzuwirken, welcher die natürliche Wirkung der raschen Zusammenziehens und Wieder-Zusammenziehens des, durch die entfernten Einzelheiten in der Tiefe beeinflußten Auges ist. In gleicher Weise führt die Schwierigkeit, zwischen Blendwerk und Wirklichkeit nahe am Grenzlande des Unsichtbaren dazu, das geistige Gleichgewicht zu stören. Die Empfindung feindlicher Einflüsse (deren Natur in der Sinneswelt nur durch ihre Wirkung offenbar wird) in ihrer vollen nackten Wirklichkeit hat für den, dessen niedere Natur nicht durch Zucht (Selbsterziehung. A.W.) geläutert ist, einen furchtbaren Zauber. Wie ein Ertrinkender im Augenblicke, bevor er das Bewußtsein verliert, sein früheres Leben, wie in einem Panorama, rasch an sich vorüberziehen sieht, so erscheint dem, der die Schwelle überschreitet, jeder schlechte Gedanke, dessen er fähig ist, gleichviel ob er in die Tat umgesetzt ist oder nicht, als ein von Händen ergriffener Strick, um ihn in den Abgrund herabzuziehen. Es gibt keine solchen Stricke, aber die Lage ist unerträglich grauenhaft, wenn man sie zum ersten Male durchmacht. Geistesgegenwart ist jedoch alles, was erforderlich ist.“ (Harrison, S. 40 f.)

 

Nicht Unwissenheit, sondern mehr Wissen

Seitdem Bulwer-Lytton-Lytton seinen Roman „Zanoni“ geschrieben hat, sind eineinhalb Jahrhunderte vergangen. Ihre Aktualität hat seither zugenommen. Fragt man sich, wieso es heute eine solche Unmenge von Filmen gibt, die schaurige geistige Ereignisse oder Science Fiktion zum Inhalt haben, man denke hier zum Beispiel an die Filme eines Stephen King oder der von dem Crowley-Schüler Giger ausgestatteten „Alien“-Filme, so erkennen wir diese Filminhalte als geistige Schwellenerlebnisse. Die Filme bieten allerdings zumeist keine Hilfen zur Verarbeitung dieser Erlebnisse. Harrison weist in seinen erwähnten Vorträgen darauf hin, dass die Menschen zwei Möglichkeiten haben, die Schwelle zu überschreiten: bewußt oder unbewußt. Gehen sie unbewußt und ohne Unterscheidungsvermögen und Geistesgegenwart über die Schwelle, dann wäre es besser, „am Delirium tremens zu sterben, als unter den Einfluß der Tausend und Ein trüglichen Gespenster zu geraten, welche den Rückweg in die Sinnenwelt besetzen.“ (Harrison, S.41) „Wenn `wenig wissen eine Gefahr ist´, liegt das Gegenmittel sicher nicht in Unwissenheit, sondern in mehr Wissen.“ (Harrison, S. 7)

Und Rudolf Steiner beurteilt Edward Bulwer-Lytton-Lytton wie folgt: „Es wie die Menschheit von dem Grade der Philistrosität, in den sie hineingewachsen ist, nicht viel, und immer weniger weiß sie davon, weil diese ein Naturgemäßes wird. Man sieht nur das als vernünftig an, wie man sich nun eben jetzt `benimmt´. Aber die Dinge im Leben hängen zusammen, und die moderne Trockenheit und Schläfrigkeit, die moderne Art, von Mensch zu Mensch sich zu verhalten, gehört als Folge zu der intellektualistischen Entwickelung der letzten Jahrhunderte. Beide Dinge gehören zusammen. Solch ein Mensch wie Bulwer-Lytton-Lytton paßt da natürlich an sich nicht hinein. ... Man muß nur den Abstand der einen Seelenverfassung von der anderen im richtigen Lichte sehen, dann wird einem so etwas doch auch im richtigen Lichte erscheinen können. Aber es war bei Bulwer-Lytton-Lytton so, weil in ihm etwas aufleuchtete, was so unmittelbar nicht da sein konnte in der modernen intellektualistische Zeit, sondern nur als Tradition.“(Steiner, S. 18)

 

Literatur:

Blavatsky, H. P.: Die Geheimlehre. Band I: Kosmogenesis. Den Haag o.J.

Bulwer-Lytton-Lytton, Edward: Vril oder Eine Menschheit der Zukunft. Dornach 1958.

Bulwer-Lytton-Lytton: Zanoni. Die sieben Stufen der Einweihung, der Liebe und des Opfers.  Schwarzenburg 1980.

Harrison, C. G.: Das transcendentale Weltenall. O.O. 1897

Jennings, H.: Die Rosenkreuzer - Ihre Gebräuche und Mythen. Berlin 1912.

Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar: Internationales Freimaurerlexikon. Wien 1932.

Steiner, Rudolf: Anthroposophie als Kosmosophie. 1.Teil. GA 207. Dornach 1981.

 

Aus: Flensburger Hefte Nr. 65/1999: „Doppelgänger – der Mensch und sein Schatten“.

 

 

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