Quelle: Menschenkunde.com

Denkverbot

Aus: Rudolf Steiner, Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste, Zwölf Vorträge, gehalten in Berlin, vom 13. Februar bis 30. Mai 1916
‹Rudolf Steiner Gesamtausgabe› Nr. 167

GA 167, S. 98f 4. April 1916
(Vortrag: «Zeichen, Griff und Wort» — über okkulte Logen in unserer Zeit)

[…]

Der größere Teil der Menschheit wird seinen Einfluß von Amerika, von dem Westen herüber haben, und der geht einer anderen Entwickelung entgegen. Der geht jener Entwickelung entgegen, die heute sich erst in den idealistischen Spuren, gegenüber dem, was da kommt, in sympathischen Anfängen zeigt. Man kann sagen: Die Gegenwart hat es noch recht gut gegenüber dem, was da kommen wird, wenn die westliche Entwickelung immer mehr und mehr ihre Blüten treibt. Es wird gar nicht lange dauern, wenn man das Jahr 2000 geschrieben haben wird, da wird nicht ein direktes, aber eine Art von Verbot für alles Denken von Amerika ausgehen, ein Gesetz, welches den Zweck haben wird, alles individuelle Denken zu unterdrücken. Auf der einen Seite ist ein Anfang dazu gegeben in dem, 98 was heute die rein materialistische Medizin macht, wo ja auch nicht mehr die Seele wirken darf, wo nur auf Grundlage des äußeren Experiments der Mensch wie eine Maschine behandelt wird. […]

Einer der anderen Anfänge: Wir haben ja heute schon Maschinen zum Addieren, Subtrahieren: nicht wahr, das ist sehr bequem, da braucht man nicht mehr zu rechnen. Und so wird man es auch machen mit allem. Das wird nicht lange dauern, ein paar Jahrhunderte - dann ist alles fertig; dann braucht man nicht mehr zu denken, nicht mehr zu überlegen, sondern man schiebt. Zum Beispiel da steht: «330 Ballen Baumwolle Liverpool», so überlegt man heute sich da noch etwas, nicht wahr? Aber dann schiebt man bloß, und die Geschichte ist ausgemacht. Und damit nicht gestört wird das feste Gefüge des sozialen Zusammenhangs der Zukunft, werden Gesetze erlassen werden, auf denen nicht direkt stehen wird: Das Denken ist verboten, aber die die Wirkung haben werden, daß alles individuelle Denken ausgeschaltet wird. Das ist der andere Pol, dem wir entgegen arbeiten. Dagegen ist das Leben heute immerhin nicht gar so unangenehm. Denn wenn man nicht über eine gewisse Grenze hinausgeht, so darf man ja heute noch denken, nicht wahr? Allerdings eine gewisse Grenze überschreiten darf man ja nicht, aber immerhin, innerhalb gewisser Grenzen darf man noch denken. Aber das, was ich geschildert habe, das steckt in der Entwickelung des Westens, und das wird kommen durch die Entwickelung des Westens.

Also in diese ganze Entwickelung muß sich auch die geisteswissenschaftliche Entwickelung hineinstellen. Das muß sie klar und objektiv durchschauen. Sie muß sich klar sein, daß das, was heute 100 wie ein Paradoxon erscheint, geschehen wird: ungefähr im Jahre 2200 und einigen Jahren wird eine Unterdrückung des Denkens in größtem Maßstabe auf der Welt losgehen, in weitestem Umfange. Und in diese Perspektive hinein muß gearbeitet werden durch Geisteswissenschaft. Es muß soviel gefunden werden - und es wird gefunden werden -, daß ein entsprechendes Gegengewicht gegen diese Tendenzen da sein kann in der Weltenentwickelung.

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