«Dieser Aufsatz gehörst zu dem Bedeutendsten, was die Pädagogik zu allen Zeiten hervorgebracht hat.»
Rudolf Steiner
Willy Storrer
«In memoriam Max Stirner»
1856 starb Max Stirner. Die Nachwelt hat sich bis heute umfassend bemüht, jene Beispiele der Besessenheit und des Pfaffentums zu vermehren, die Stirner in seinem Werk «Der Einzige und sein Eigentum» anfuhrt. Die Besessenheit ist auch heute noch der allgemeine Kulturzustand. Es wird überall noch gepredigt, dekretiert und moralisiert. Überall noch wird bestimmt und aufgestellt, was recht und gut sei. Es wird immer noch für Demokratie, Freiheit und Recht geschwärmt Der Friede wird garantiert und die Steuern müssen bezahlt werden. Es bleibt alles beim Alten. Nicht einmal die Draperie ist neu. Es sind immer die alten Phrasen, für die Begeisterung verlangt wird.
Aber woher den Geist nehmen für solche Begeisterung, da sie doch keine Heringsware ist? Ist nicht bald alle ursprüngliche Geistigkeit vom unendlichen Wust der Phrase zugedeckt und erstickt ? Und da systematisch die Quelle aller Geistigkeit verschüttet wird, besteht noch Aussicht darauf, daß Individuen aufstehen werden, stark und mutig genug, um über diesem Phrasenwuste ein neues Reich zu begründen ? Ein neues Reich; jenes Zeitalter der Freiheit, zu welchem die ganze Vergangenheit mit ihrem universalen Aufwand an Welt- und Menschengestaltung die verheißungsvolle Vorbereitung darstellt. Doch die Götter können warten. Sie schicken immer neue Menschen in die Zeit und hoffen, daß etwas von dem Samen fruchtbar aufgehen werde, den sie in die alte Erde pflanzen. Die Phrase wirkt bis zu ihrer Vollendung. Diese erreicht sie dann, wenn sie den letzten Rest der absterbenden Geisteskräfte der Vergangenheit getötet, d. h. in Phrase verwandelt hat Ist es nicht bald so weit ? Gibt es noch Worte, Begriffe, und Ideen aus der Vergangenheit, die lebendigen Sinn haben, in denen noch der kräftige Puls wirklichen Geistes schlägt? 1842 konnte Stirner schreiben: «Es gibt aber der politischen, sozialen, kirchlichen, wissenschaftlichen, künstlerischen, moralischen und anderer Leichname überall eine große Fülle, und ehe sie nicht alle verzehrt sind, wird die Luft nicht rein und der Atem der lebenden Wesen bleibt beklommen.» Dieses Leichenfeld ist heute vollendet Davon ist die Luft so verpestet, daß kaum noch zu atmen vermag, wer sein Leben auf geistigen Odem gründet
Wer sein Leben in dieser Luft leben will, muß sich selber den Ausgang ins Freie schaffen. Der Weg ins Freie! Wo ist dieser Weg und dieses Land der Freiheit, nachdem wir uns aus der Qual unwürdiger Abhängigkeit und Knechtschaft sehnen? Wo ist einer, der diesen Weg gegangen wäre und der ihn uns zeigte? Wir verzichten von vorneherein auf alle diese Künste, Wissenschaften und Religionen, auf alle diese Anpreisungen von Leuten, die Propaganda machen für etwas, was sie selbst nicht mehr suchen. Die alte Welt ist zu Ende. Wir fühlen es: in uns, um uns webt und treibt eine neue Zeit Sie wirkt in unserem Blut, in unseren Trieben, in unserem Herzen. Sie gibt allen Dingen ihren eigenen Glanz. In dieser neuen Zeit drängt es uns, zu handeln, Werke zu schaffen, als Körper und Schein eines neuen Geistes. Aber wir können dieses Neue in uns und um uns noch nicht erfassen. Es wirkt in uns und in der Welt, aber wir sind es nicht selbst, die es wirken. So sind wir in einem grausamen Dilemma: wir durchschauen die Phrasen der abgestorbenen Zeit und empfinden die Kraft des Neuen. Aber wir durchschauen es nicht. Wir fühlen: alles hängt davon ab, ob wir dieses Neue begreifend verstehen können. Dann ist es unser. Dann können wir ihm unsere eigene Wirklichkeit geben. Es wird uns selbst und was wir aus ihm wirken ist Schöpfung aus nichts und allem: Es entspringt dem sehenden Willen der schöpferischen Persönlichkeit.
II
Dem Wanderer, der in der Nacht herumirrt, kann das Licht eines durch den Himmelsraum schießenden Meteors den verlorenen Weg zeigen. Max Stirner ist ein solcher Meteor. Im 19. Jahrhundert schießt er durch die Nacht und erhellt für Momente die Finsternis. Aber dieses Blitzlicht hat nicht genügt. Es ist, als hätten die Mitlebenden den Blick starr vor sich auf den Boden gesenkt, sodaß sie nichts sehen können, als was unmittelbar vor ihrer Nase liegt. Jahrzehnte müssen vergehen, bis einer kommt, (John Henry Mackay) der auf den vergrabenen Meteor stößt Er fördert ihn in mühseliger Arbeit zutage und weist mit aller Kraft auf ihn hin. Aber nur wenige sehen hin und noch weniger verstehen, worum es sich handelt Man wandert weiter im alten Trab im Kreise herum und merkt nicht, daß man sich auf einem Leichenfeld bewegt, auf dem' Friedhof einer abgestorbenen Zeit. Man lebt das Scheinleben weiter und tut so, als ob es die Wirklichkeit wäre, in der man bewußt denkt, fühlt und handelt Aber die wahre Wirklichkeit lebt auf eigene Faust weiter und verwandelt die Als-Ob-Illusionen in Tod und Verderben. Wenn Blitzlichter nicht genügen, müssen kräftige Stöße die Erhellung bewirken. Diese sind denn auch nicht ausgeblieben.
Aber eine neue Zeit ist angebrochen. In ihr leben bereits neue Menschen, für die ein solcher Blitz in der Nacht genügt, um wenigstens die Richtung des Weges ins Freie zu finden. An solche Menschen richtet sich dieser Hinweis auf Max Stirner. Die nachfolgenden Blätter enthalten Stirners kleinen Aufsatz: «Das unwahre Prinzip unserer Erziehung oder der Humanismus und Realismus.» Er erschien 1842 in der Rheinischen Zeitung und wurde von John Henry Mackay 1897 aufs neue einer weiteren Öffentlichkeit bekannt gegeben. (Max Stirners Kleinere Schriften, herausgegeben von J. H. Mackay.) 1845 erschien Max Stirners eigentliches Lebenswerk «Der Einzige und sein Eigentum». Den gewaltigen, historisch begründeten Hinweis dieses Werkes auf die Einzigartigkeit und Größe des Individuums hat Stirner bereits 3 Jahre vorher in dem kleinen Zeitungsaufsatz über das unwahre Prinzip in lapidaren Sätzen skizziert. In diesem Aufsatz ist alles Wesentliche enthalten. Worum es sich handelt, das ist hier mit unerhörter Deutlichkeit gesagt. Und es ist für ein Gebiet ausgesprochen, auf dem heute und in der Zukunft die Entscheidung über das Menschenschicksal fallen muß: auf dem der Erziehung. Schon in den ersten Sätzen des Aufsatzes geht Stirner auf das Problem los, indem er fragt: «Bildet man unsere Anlage, Schöpfer zu werden, gewissenhaft aus, oder behandelt man uns nur als Geschöpfe, deren Natur bloß eine Dressur zuläßt?» Und dann folgt jene großartige Auseinandersetzung mit den Grundsätzen der humanistischen und realistischen Erziehung, die die Probleme so tief erfaßt, daß sie von selbst zu einer Charakteristik des Zeitalters wird.
Doch der Aufsatz ist so kurz und in seiner Kürze von einer solchen Prägnanz und Wucht, daß man John Henry Mackay recht geben muß, wenn er im Vorwort zur ersten Auflage der Kleinen Schriften sagt: «... die Wucht seiner eigenen Worte kann durch keine fremden erhöht, höchstens abgeschwächt werden ...». Wenn ich trotzdem den Mut zu diesen Zeilen finde, so ist es, weil die Phrasenhaftigkeit der noch herrschenden alten Zeit einen deutlichen Hinweis nötig macht Es ist nötig zu sagen, daß in diesem Aufsatz Stirners etwas ganz Außerordentliches vorliegt Weil die Phrase die Aktivität des Denkens erlahmt hat, muß man ausdrücklich darauf hinweisen, daß kein Satz in diesem Aufsatz phrasenhaft ist, daß jedes Wort aus der Fülle individueller Wirklichkeit geschöpft ist und daß eben darum das energische, konzentrierte Studium dieser Worte und Sätze durch sich selbst ein Weg ist in die Wirklichkeit vorwärts. Das ist nicht die Schein-Wirklichkeit leerer Definitionen. Es ist die Wirklichkeit des aktiven Denkens das aus dem Quell aller Menschen-Wirklichkeit entspringt: aus Dir selbst, aus dem eigenen persönlichen Menschen, für den es keinen Ausdruck gibt, sondern nur Namen, die auf ihn hinweisen.
Alles, was Stirner getan hat, ist ein einziger Hinweis auf ihn, den Einzigen. Und es war ihm um nichts anderes zu tun als dieses: jeder möchte doch selber einmal auf diesen Einzigen hinsehen. Nichts weiter. Aber dieses Hinsehen sollte ohne Illusionen, ohne jeden Nebel und Schwindel geschehen. Er wußte, wenn einer einmal nur unbefangen auf sich selber hinsieht, verschwinden alle Illusionen. Er wußte, die Selbsterkenntnis führt in die wahre Wirklichkeit. Der sich selbst erkennende Mensch braucht keine Gesetze, keine Gebote, keine autoritativen Religionen und Moralphilosophieen. Er findet in sich selbst alle Gesetze, alle Wahrheiten, denn er ist ja der Schöpfer, der wahre Gesetzgeber. Er schafft Wissen und Recht und ist mit aller Wirklichkeit verbunden, weil er alle Wirklichkeit selbst ist. Er ist der Einzige und sein Eigentum ist das Universum. Will er in sein Eigentum kommen, so muß er alles, was er als außer sich empfindet, durch Erkenntnis und Liebe erobern. Niemand braucht ihm die Liebe zum Nächsten zu gebieten. Wenn er sich selbst erkennt, sieht er ja, daß der Nächste ein Glied seiner selbst ist. Indem er ihn liebt, macht er ihn sich zu eigen.
III
Stirner weist uns die Richtung des Weges, der zur Wirklichkeit führt. Er hat selbst diesen Weg betreten und ist ihn ein entscheidendes Stück gegangen. Indem wir ihm folgen, sehen wir, daß diese Wirklichkeit das ersehnte Land der Freiheit ist. Diese ersten Schritte ins Gebiet der Freiheitswirklichkeit sind im «Unwahren Prinzip» mit pädagogischer Meisterschaft charakterisiert. Wer ihnen da zu folgen vermag, wird sehen, wie der Weg aus der Welt der Illusionen und Phrasen in die Welt der Freiheit, in scheinbar kalte, einsame Höhen führt. In eine geistige Gletschersphäre, wo ein scharfer Wind weht. Da ist kein freundliches Leben; das sind keine Hütten und Freunde. Da ist niemand, als du selbst. Soweit der Blick reicht ist alles Schnee und Gletscher, schneidend kalte Winterluft und ein unendlich, weiter, klarer Himmel.
Jene Stimmung des Prometheus, wo er sich hilfeheischend zur Sonne wendet
da ich ein Kind war,
nicht wußte, wo aus noch ein,
kehrt' ich mein verirrtes Auge
zur Sonne, als wenn d'rüber wär'
ein Ohr, zu hören meine Klage,
ein Herz wie meins,
sich des Bedrängten zu erbarmen.
muß überwunden sein auf diesen Höhen. Nietzsche in Sils Maria, der sich in der Einsamkeit zusingt
die Krähen schrei'n
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
bald wird es schnei'n,
Weh' dem, der keine Heimat hat!
empfindet diese Stimmung auf den Höhen der Abstraktion.
«Nur in der Abstraktion ist die Freiheit: der freie Mensch nur der, welcher das Gegebene überwunden und selbst das aus ihm fragweise Herausgelockte wieder in die Einheit seines Ichs zusammengenommen hat.» (Stirner). Kann man das in einer Zeit noch verstehen, in der gerade über die tiefsten Begriffe die dichtesten Phrasen gelegt sind? Abstraktion, Egoismus, Freiheit, Wirklichkeit, Erkenntnis, Wahrheit, Geist, Seele, Körper, Materie, Gott, Götter, Sünde, Leben und Tod .. solche Begriffe werden kaum mehr erlebt Man gebraucht sie, als verbände man damit eine Erkenntnis. Aber man erlebt ja bestenfalls nur den Stoff zu diesen Begriffen und scheut davor zurück, auf jene Erkenntnishöhen zu steigen, wo aller Stoff sich entsinnlicht und offenbar wird, was ihn gestaltet. Wie der Fischer auf gut Glück sein Netz ins Wasser wirft zum Fischfang, so muß man heute die tiefen Worte in die Öffentlichkeit werfen. Sie versinken fast alle in der Phrase. Man muß dankbar sein, wenn nach langer Vorbereitung einmal ein solches Wort auf guten Boden fällt, wo es gedeihen und Früchte tragen kann.
Die Abstraktion ist eine Säure, die den Vorstellungen ihre Sinnlichkeit wegätzt. Was bleibt, ist der Begriff, der Gedanke, die Idee. Durch das Erleben der durch die Vorstellungen gegebenen, in der Abstraktion entsinnlichten Begriffe, kommen wir zum Wesen der Dinge, Erlebnisse und Geschehnisse. Da vereinigen wir uns mit ihnen; sie gehen auf diesem Wege in uns ein. Die in der Abstraktion erlebten Begriffe, gewonnen durch Wahrnehmung und Vorstellung, versinken in unser Gefühls- und Empfindungsleben und schließlich tauchen sie in unsern Willen unter. Da sind sie scheinbar für immer verschwunden. Aber sie kommen wieder. Sie sind gestorben, aber sie werden wieder geboren. Eines Tages, da können wir etwas. Der abstrakte Begriff ist zu realem Leben geworden. Er lebt als Fähigkeit in uns. Er hat aufgehört ein Wissen zu sein. Er ist Glied meiner selbst geworden: Fähigkeit, Lebenserfahrung, Geschicklichkeit, Kunst. Wissen und Wille sind in der im Geiste wesenden Persönlichkeit die Ehe eingegangen. Aus dieser Ehe entspringt in jugendfrischer Kraft die Kunst als freie Schöpfermacht, als bewußter Wille, als willendurchkraftetes Bewußtsein. (Potentielles Bewußtsein, im Gegensatz zum unschöpferischen intellektuellen Bewußtsein.) Das ist die wahre Sonne des Menschen: Der Logos, als göttliche Weisheit, geliebt als Philo-Sophia, gestorben in der Abstraktion des intellektuellen Denkens und wiederauferstanden als Schöpferkraft in der über Raum und Zeit erhabenen Wesensfülle des Individuums. Das ist der Weg der Erhebung des Menschen aus dem Dunkel der Gattung. Er führt auch zur Erlösung der unter dem. Menschen dumpf atmenden Natur. Der wahrhaft künstlerische Mensch zahlt die Schulden, die die Menschheit auf. ihre Zukunft gemacht hat.
In wunderbaren Sätzen klingt diese Erkenntnis bei Stirner auf. Es ist, als hätte er nach schweren Mühen einen hohen Gipfel erreicht, von dem aus er das weite Land zu übersehen vermag. Und er ruft, tief atemschöpfend, aus: «Ja, so ist es, das Wissen selbst muß sterben, um im Tode wieder aufzublühen als Wille; die Denk-, Glaubens- und Gewissensfreiheit, diese herrlichen Blumen dreier Jahrhunderte, werden in den Mutterschoß der Erde zurücksinken, damit eine neue Freiheit, die des Willens, von ihren edelsten Säften sich nähre.» Von diesem Gipfel aus übersieht er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und er sieht: «Das Wissen und seine Freiheit war das Ideal jener Zeit, das auf der Höhe der Philosophie endlich erreicht worden ist ; hier wird der Heros sich selbst den Scheiterhaufen erbauen und sein ewiges Teil in den Olymp retten. Mit der Philosophie schließt unsere Vergangenheit ab, und die Philosophen sind die Raphaele der Denkperiode, an welchen das alte Prinzip in leuchtender Farbenpracht sich vollendet und durch Verjüngung aus einem zeitlichen ein ewiges wird. Wer hinfort das Wissen bewahren will, der wird es verlieren; wer es aber aufgibt, der wird es gewinnen. Die Philosophen allein sind berufen zu diesem Aufgeben und diesem Gewinste: sie stehen vor dem flammenden Feuer und müssen, wie der sterbende Heros, ihre irdische Hülle verbrennen, wenn der unvergängliche Geist frei werden soll.»
IV.
Die Wirklichkeit des persönlichen Menschen ist das Universum mit allen seinen Geschöpfen und Wesen, mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, mit allem, was zeitliches und ewiges Dasein hat. Aber täuschen wir uns nicht! Diese universale Wirklichkeit ist noch nicht sein Eigentum. Sie ist seine Anwartschaft, sein Erbgut. Diese universale Erbschaft muß er zu seinem Eigentum machen. Da dieses Erbe hinaufreicht bis in die höchsten Himmel und hinunter in die Finsternisse der Erde, zurück in den Anfang der Zeiten, in den Schoß der Ewigkeit und vorwärts in die Aeonen der Zukunft, muß er sich aufmachen, um alle diese Schätze zu ergreifen. Und da er sich selbst nicht zumuten wird, dieses alles als ungeheure Bürde aufzunehmen, wird ihm nichts übrig bleiben, als es im Großen so zu halten, wie er es im Kleinen als freie Person zu halten pflegt: er wird alles erkennen, alles erleben und alles verwandeln zu sich selbst. Ja, so wie er die Früchte des Feldes zu seiner Nahrung nimmt, sie ißt und trinkt, verdaut und seinem Organismus einverleibt, so wird er im Großen die grandiosen Früchte des Universums in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, im Himmel und auf der Erde, in Zeit und Ewigkeit ergreifen und sie alle verwesen, d.h. sie zum Inhalt seiner ewigen Individualität metamorphosieren. Wenn er das vermag im ganzen Umfang der Schöpfung und des Weltenschicksals, dann wird er in seinem Eigentum sein. Dann ist er ein Schöpfer, der in sich die Wesen der Welt begreift. Dann ist seiner Füße Schemel die Erde, sein Haupt ragt in die Himmel und seine Hände greifen in die Sterne..:
V.
Aber wie? Stirner konnte diese ungeheure Perspektive für das Individuum eröffnen. Er konnte auch die ersten Schritte zeigen, die ins Land der Freiheit führen. Aber die Gebiete der Wirklichkeit sind so umfassend große, ihre qualitative Verschiedenheit ist so unendlich, daß er in einer kurzen Zeitspanne von 50 Jahren (1806-1856) und dazu noch in einer Epoche, wo sich im Gesamtverlauf der Geschichte die bewußte Persönlichkeit erst eigentlich zu sich selbst aufzumachen begann, nichts weiter tun konnte, als mit dem Werke seines ganzen Lebens auf denjenigen hinzuweisen, den er als strahlende Sonne aus dem Dunkel der Vergangenheit aufgehen fühlte: den Einzigen, die ewige Individualität.
Er mußte es den nach ihm Kommenden überlassen, die Wege und Mittel zu finden, die den Einzigen in die Welten des Universums führen können. Er fühlte die Herrlichkeit der Sonne, wie sie in der Dämmerung hinter den Bergen aufging. Aber er lebte noch, durch die Zeit gebunden, im Umkreis des spekulativen Gedankens.
Unterdessen aber ist sie aufgegangen. Sie überstrahlt das Universum mit ihrem Licht und flammt in uns selbst Das ist die neue Zeit. Die Sonne der Individualität geht auf in der Welt und im Menscheninnern. Aber unsere Augen sind blind und unsere Ohren sind taub. Sonst müßten wir den unendlichen Glanz sehen und die Sphärenmusik hören. Nur dumpf fühlen wir etwas von diesem Glanz und empfinden dunkel wie aus unendlichen Fernen die Klänge der Sphären.
Wer öffnet uns Augen und Ohren und gibt uns Sinne, das Neue zu fassen, damit wir es aufnehmen können, daß es aus einem Fremden ein Eigenes werde? Wir brauchen neue Augen, neue Ohren, neue Sinne, ein anderes Denken und Fühlen und Wollen, damit wir in die ganze Welt eindringen können. Jetzt stehen wir noch wie Kinder vor verschlossenen Schaufenstern. Wir haften überall an der Oberfläche. Wir fühlen: die wahre Wirklichkeit ist uns noch versperrt. Um zu ihr zu gelangen, braucht es andere, neue Organe der Wahrnehmung und Erkenntnis, als wir bisher betätigen konnten. Erst durch sie kommen wir ins Innere der Dinge und Wesen: zu den Urbildern des Lebendigen, zu den Seelen der Tiere, zu den Individualitäten der Menschen und zu den Göttern selbst, die in uns wirken und die wir nicht verstehen.
VI.
Diesen Weg in die Wirklichkeit der Freiheit, hinaus in. die Weltenweiten und hinein in die Tiefen der menschlichen Individualität, beschritt mit unbeirrbarer Sicherheit schon in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Rudolf Steiner. Er ist diesen Weg unter uns weitergeschritten bis zu seinem im März vorigen Jahres erfolgten physischen Tod. «Nur in der Abstraktion ist die Freiheit» schrieb Max Stirner 1842 und wies damit auf den ersten Schritt, den derjenige zu gehen hat, der sich das Gebiet der Freiheit erobern will. 1896 erschien Rudolf Steiners «Philosophie der Freiheit». In ihr sind die Andeutungen und skizzenhaften Hinweise Stirners erkenntnistheoretisch begründet und zu einer umfassenden Philosophie der freien Persönlichkeit entwickelt. Diese Philosophie der Freiheit beschließt eine lange Vergangenheit des angestrengtesten: philosophischen Suchens und Forschem und begründet das neue Zeitalter der. Erkenntnis und Freiheit. Die Signatur dieses neuen Zeitalters ist der künstlerische Mensch, der, frei von jeder Besessenheit, sein Leben nach eigenen Ideen und Impulsen gestaltet.
Doch die philosophische Begründung der Erkenntnis und Freiheit waren nur die ersten Schritte Steiners auf seinem Wege in die universelle Wirklichkeit Der Weg führt weiter in die übersinnliche Wirklichkeit des Lebendigen, des Seelischen und des geistig Wesenhaften. In den grundlegenden Schriften : Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, Theosophie und Geheimwissenschaft, sind diese Schritte für jeden klar denkenden und gesund empfindenden Menschen dargestellt Von hier aus verliert sich für unsern an die Sinne gebundenen Verstand der Weg. An seiner Stelle sehen wir eine Individualität sich ins Universum weiten und aus allen Welten und Zeiten Erkenntnisfrüchte für uns zurückbringen. Diese hier auch nur zu charakterisieren, würde meine Kräfte übersteigen. Wer mit wachem Geist und Gemüt diesen Erkenntnissen nachdenkend und empfindend zu folgen versucht, wird zu einem Erlebnis gelangen, das ihm entscheidend sein kann, für die ganze weitere Entwicklung. Ich meine dieses: er sieht sich in seinem Leib als in einem wunderbaren Organismus mit unendlich mannigfachen Organen. In ihnen spiegelt sich das ganze Universum mit seinen Myriaden von Kreaturen, Geschöpfen und Wesenheiten. Er sieht sich selber in diesen ganzen Kosmos hinausweiten, hinauf zu den Sternen, über die Sonne hinaus, hinunter zu den Steinen, in die Erdentiefen. Er sieht das ganze Weltenall an seinem Leib und an seinen Organen arbeiten. Er sieht seinen unendlichen Gang durch die Weltenzeitalter mit seinen unendlichen Schicksalsverknüpfungen und ahnt eine Zukunft auf einer neuen Erde mit neuen Wesen und neuen Organen. Er sieht wie kosmische Wesenheiten seinen Leib bauen; wie dieser wächst und als Mikrokosmos zum Himmelsbild gestaltet wird; wie dieser Leib hinwelkt und wie die Stoffe, aus denen er gebildet wurde, wieder den Gesetzen des Erdenorganismus verfallen. Er sieht sich diesen Leib verlassen und aufsteigen in die Weltenweiten und wiederkehren zu einem neuen Leib und einem neuen Schicksal. Er sieht seine große Aufgabe in seinem Zeitalter und empfindet den Willen, sich mit den Mächten der Geschicke zu verbünden, um mit ihnen zusammenzuarbeiten für die Zukunft der Erde und des Menschengeschlechts.
VII.
Der Einzige und sein Eigentum! Das ist Max Stirners Weltenzukunftsverheißung für das menschliche Individuum. Die Zeit ist gekommen, wo ihre Erfüllung beginnt. Wie Moses im Angesicht des verheißenen Landes stirbt, so stirbt Stirner im Angesicht des Einzigen. Sein ganzes Lebenswerk ist eine einzige Gebärde auf ihn hin.
Fünf Jahre nach Stirners Tod wird der Schöpfer der Anthroposophie geboren Er erfüllt, was jener verheißt. Durch ihn vermag der Einzige in sein Eigentum zu kommen. Anthroposophie ist der Weg zu ihm.
Weihnachten 1925 Willy Storrer