I. Die Anthroposophie Rudolf Steiners und die Kulturwelt
INHALT
Vom dunklen Wort zum klaren Sinn 3
Vom klaren Sinn zum dunklen Satz 4
Vom Zwielicht 5
Vom fehlenden Eingeständnis und vom Kampfe Michaels 6
Vom klaren Wort zum dunklen Sinn 8
Von der Erkenntnis-Erwartung 9
Vor dem Tore der Anthroposophie 9
«Ich hörte einmal einen sehr belesenen Menschen einen Vortrag halten und ein Kind stand dabei. Das Kind wurde gefragt: Was hast du denn gehört? Da sagte es: Der gibt mir nichts neues, ich kannte schon alle Worte.» (Rudolf Steiner, Vorstufen zum Mysterium von Golgatha, GA 152, S. 87)
Rudolf Steiner habe gesagt, die Anthroposophie müsse ein Kulturimpuls werden. Ob er der Meinung sei, dies sei gelungen, wurde in diesem Monat der neue Präsident der Hamburger Musikhochschule, Elmar Lampson, gefragt. Von vielen Seiten hören wir die Meinung Lampsons widerhallen, Anthroposophie habe die Kultur schon längst zu neuer Spiritualität impulsiert und ihren Auftrag damit weitgehend erfüllt. Auf mich wirkt diese Sicht höchst beunruhigend. Muß Anthroposophie nun in der angeblich von ihr gewünschten ‹integralen Kultur› aufgehen wie die Hefe im Sonntagszopf oder das Salz in der Suppe? Nichts gegen die Suppe, aber das Salz muß ja auch Salz sein, um die Suppe zu salzen. Die selbstbewußte Betonung des spezifisch Eigenen und Einmaligen der anthroposophischen Geisteswissenschaft Rudolf Steiners und ihrer zentralen Rolle in der Geschichte der Welt und des Kosmos wird heute vielfach schon als peinlicher Ausdruck kleinkarierter Sektiererei angesehen. Ist die Anthroposophie Rudolf Steiners etwa jetzt überflüssig geworden, weil viele Menschen ihrer Meinung nach schon ‹spirituell› in einer ‹integralen Kultur› ausgerichtet sind? Solche Töne erinnern mich daran, was vor etwa 30 Jahren ein freundlicher Jesuitenpater zu mir sagte: «Wenn die Anthroposophie christlich ist, dann ist sie so unnötig wie ein Kropf, denn das richtige Christentum haben wir ja schon; da sie aber nicht christlich ist, ist sie ja erst recht überflüssig.» Man hört solches heute auch über die spezifisch anthroposophische Art von ‹Spiritualität›. Doch Totgesagte leben länger, heißt es. Allerdings sollten sie dann endlich wissen, warum sie von den Gegnern totgesagt werden: Weil sie ihre Aufgabe nicht erfüllen sollen. Was aber ist denn diese Aufgabe? Wie kann man glauben, sie zu erfüllen, wenn man sie nicht wirklich kennt?
Um vorweg anzudeuten, worum es geht: Anthroposophie ist ein umfassender Kulturimpuls in der Welt von heute und morgen. Nicht wir Anthroposophen haben sie erst dazu zu machen. An uns aber liegt es, ihre Wirkung auf die Welt, auf die Kultur, auf das Naturgeschehen zu erkennen. Und uns entsprechend verhalten zu lernen. Wir sind von Rudolf Steiner zu Wächtern bestimmt über das Weltgeschehen. Denn durch Anthroposophie wird Welterkenntnis zu Selbsterkenntnis, und Selbsterkenntnis zu Welterkenntnis. Die Stiftung des tatsächlichen, realen Zusammenwirkens der beiden Erkenntnis¬bereiche das ist die Anthroposophie Rudolf Steiners. Und wie es uns gelingt, dieses weltweite Zusammenwirken bewußt zu erfahren, so werden wir zu Anthroposophen. Wie wir aber diese Bereiche in ihrem realen Zusammenhang überhaupt verstehen können, das muß uns eigene anthroposophische Forschung sagen. Wie wir uns dann entsprechend verhalten lernen können, davon spricht uns die zentrale Lehre Rudolf Steiners von Reinkarnation und Karma. Sie zeigt, wie Karma heute schon Erkenntnis wirkt. Und wie die Karma-Orientierung der Erkenntnis in das Weltgeschehen ebenso eingreift, wie das Weltgeschehen Karma-Erkenntnis meint.
In drei Schritten möchte ich versuchen, meine Sicht auf den Kulturimpuls der Anthroposophie aufzuzeigen. Sie wird vielleicht andere aufwecken, ja provozieren. Und das wäre gut so. Erstens: Worin wirkt dieser Kulturimpuls? Ein Blick auf die Kulturwelt heute. Zweitens: Was wäre eigentlich anthroposophische Forschung? Drittens: Warum bezeichnet Rudolf Steiner seine Lehre von Reinkarnation und Karma als den zentralen Punkt seiner Anthroposophie?
[...]