Das Goetheanum 38/2004, S. 14
Buchbesprechung
Peter Selg
«Mit spiritueller Leidenschaft»
Karen Swassjan: Anthroposophische Heilpädagogik
In der Fülle geschichtlicher oder vielmehr geschichtszentrierter Veröffentlichungen erschien vor kurzem in Dornach ein bemerkenswertes Buch, eine funkelnde Schrift: der aus Armenien stammende Philosophieprofessor Karen Swassjan schrieb einen großen, ebenso unerwarteten wie glanzvollen Essay über die anthroposophische Heilpädagogik in sieben Kapiteln, eine Untersuchung im vorgeblichen Gewand des Historischen. ‹Zur Geschichte eines Neuanfangs›, ja ‹zum 80jährigen Bestehen von Rudolf Steiners Heilpädagogischem Kurs› sollte (den Verlags-Untertiteln zufolge) offensichtlich noch etwas Weiteres, Zusätzliches und Ergänzendes beigetragen werden - indes: «Es wird aber nicht die Geschichte erzählt, sondern ein Karma erörtert.»
Ein Augenzeuge
des Heilpädagogischen Kurses Swassjan erörtert einen epochalen Neubeginn in seinen immanenten Voraussetzungen und inhaltlichen Perspektiven, bedenkt ein unscheinbares Geschehen in der hölzernen Dornacher Schreinerei im Sommer des Jahres 1924. «Das Nachstehende will ein skizzenhafter Einblick in die Heilpädagogik sein, wie sie zwischen dem 25. Juni und dem 7. Juli 1924 durch Rudolf Steiner in zwölf Dornacher Vorträgen vor Ärzten und Heilpädagogen dargelegt und praktiziert wurde.» Er bedenkt keinerlei Bekanntes, sondern ein Neues, in dessen Zentrum Steiner und die Anthroposophie stehen (1. Kapitel: ‹Auftakt› - bedenkt einen Kursunterricht als ein methodisch hellwacher ‹Teilnehmer› und ‹Augenzeuge› («Augenzeuge ist gerade nicht: wen ein Zufall vor ein Geschehen versetzt, sondern: wer Augen hat, es - sogleich oder wann auch immer - zu sehen»), im klaren Bewußtsein der folgenreichen medizinischen ‹Erkenntnis›-Abwege (oder -Auswege) der vorausgegangenen Jahrhunderte (Kapitel 2 und 3: ‹Heilkunde: ‹Conquista des Körpers› und ‹Psychiatrie ohne Psyche» sowie jener tatsächlichen Einschläge des konturiert Zukünftigen, Aufgegebenen und Einzulösenden, die Steiner 1924 aufzeigte und veranlagte, aus der Not und durch die Gnade.
Swassjan erörtert in brillanter Weise den Abgrund zwischen dem Alten und Neuen, in gewisser Hinsicht den «Welten-Zeitenwende-Anfang» (Steiner), im fachlichen Detail und mit spiritueller Leidenschaft. Er skizziert die reale Sackgasse der materialistischen und daher individualitätslosen ‹Körper›- und ‹Seelen›-Lehre des 18. und 19. Jahrhunderts, die in innerer Konsequenz zu den späteren Euthanasiemorden der nationalsozialistischen Zeitepoche führte («Der Nationalsozialismus und die Medizin im Nationalsozialismus sind dem Projekt der Moderne immanent», Alfons Labisch[1], sodann jedoch die geistige Signatur und methodische Inhaltlichkeit der im ‹Heilpädagogischen Kurs› zum Vorschein kommenden anthropologischen Wende (Kapitel 4 und 5: ‹Vorgeschichte und Prämissen», die in die Karma-Aspekte der heilpädagogischen Handlung hineinkulminiert (Kapitel 6: ‹Eingriff ins Karma». Im Anschluß und in bewußter Weiterführung der bis heute wegweisenden Aufsätze und Darstellungen Walter Holtzapfels - von Swassjan zu Recht als «Zierde der anthroposophischen Kultur» akzentuiert - gelingt es ihm dabei anhand von überraschenden Einsichten und subtilen Durchblicken, die konkrete Spiritualität und damit den realen Erkenntnisgrund des ‹anthroposophischen Weltanfangs des Heilpädagogischen› entgegen den Verstellungen des ‹Historischen› und allen Suggestionen des scheinbar längst Verstandenen in ihren zentralen Linien ansichtig werden zu lassen - als wacher Philosoph und Student der Anthroposophie, mit zentriertem Blick auf das Wesentliche, in konkreter Augenzeugenschaft.
Vom Umgang mit Geschenken
Swassjans Ausführungen sind durchaus auch als ein allgemeiner Beitrag zur ‹Geschichte› der anthroposophischen Bewegung les- und rezipierbar - als ein wegweisender, aufweckender Beitrag für einen tatsächlichen, wenn auch in der Gegenwart oft genug versäumten (weil nicht hinreichend verstandenen und existentiell gewollten) ‹Neuanfang›. Sie sind ein intensives und markantes Plädoyer für seine noch immer aufgegebene Verwirklichung im Bereich der Heilpädagogik und der weiteren Lebensfelder («Denn was wäre eine Anthroposophie, im Gesamtkreis ihrer Kulturleistungen, noch wert, würde sie sich nicht energisch und mit offenem Visier der sterbenskranken Kultur als Weg ins Leben entgegensetzen, auf daß niemand mehr darüber im unklaren bleibe, woran man vorübergeht, wenn man an der Anthroposophie vorübergeht») - eine Verwirklichung, deren zivilisatorische Retardierung aufgrund äußerer Ignoranz, interner Paralysen und weitverbreiteter Abwege im Umgang mit dem Werk Steiners am Ende von Swassjan noch einmal mit elegantem Nachdruck aufgehellt wird (7. Kapitel: ‹Elan oder Routine?›), bis hin zur Charakterisierung jener phantasiereichen Modernisierer und «waghalsigen Ergänzer» von Steiners Werk, denen Swassjan zur «Ausnüchterung» keinesfalls «ernsthafte geisteswissenschaftliche Texte», sondern «fürs erste ein Meditieren über Äsops ‹Der aufgeblasene Frosch›» empfiehlt.
Der letzte Absatz dieser mindestens bedenkenswerten Studie lautet: «Es sollte das Schicksal der Anthroposophen sein, auf einmal überreich beschenkt zu werden und mit vollen Händen betäubt dazustehen, als wären sie nicht ganz sicher, wozu diese Geschenke da und wem sie darzubringen sind. Die Heilpädagogik ist nur ein Geschenk unter zahllosen anderen... Inzwischen ist die Lage prekär geworden, da die Geschenke schwer zu tragen sind und deshalb nicht mehr als Geschenke, sondern eher als Ballast aus der Vergangenheit empfunden werden. Der Wunsch des Beschenkten ist es also, ihre Last loszuwerden. Die Frage ist nur: wie? Sollen die Geschenke an ein Museum übergeben werden, bei dem sich die einstigen Treuhänder als Museumsführer bewerben können? Oder aber man legt sie einfach vor sich nieder, zerlegt alles, was einem in die Hand kommt, und bedient sich der Bruchstücke, die man dann so unmotiviert und willkürlich nebeneinanderstellt, wie es die dadaistischen Dichter mit den Buchstaben des Alphabets taten? Die Entscheidung läßt sich, soweit zu sehen, nicht mehr aufschieben. Man wird schon zwischen einer tiefgefrorenen Anthroposophie und einer Einweg-Anthroposophie entscheiden müssen. Nicht zu vergessen wäre aber auch eine dritte Möglichkeit: der Lehrjahre zu gedenken und sich - über alle Schnitzer und Pubertäts-Stauungen hinweg - frohgemut wieder einmal zum ersten Mal als Student in der Welt zu empfinden.» Diesen dritten Weg schritt Swassjan im Umgang mit Steiners ‹Heilpädagogischem Kurs› in exemplarischer Weise aus.
Peter Selg
Karen Swassjan: Anthroposophische Heilpädagogik. Zur Geschichte eines Neuanfangs, Verlag am Goetheanum, Dornach 2004, 96 Seiten, Fr. 17.- / Euro 10.-.
[1] Alfons Labisch: Die ‹hygienische Revolution im medizinischen Denken. Medizinisches Wissen und ärztliches Handeln, in: Angelika Ebbinghaus, Klaus Dörner (Hrsg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen, Berlin 2001, S. 87f.