Gutachten des bayerischen Kultusministeriums über die Waldorfpädagogik
I. Vorbemerkungen zur Fragestellung und zu den inhaltlichen Schwerpunkten der hier vorgelegten Stellungnahme.
Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus stellt dem Unterzeichneten im Schreiben vom 15.3.1977 (Nr. III A 4 - 4/18 147) die folgenden Fragen:
1. Inwieweit können die Zielsetzungen der Montessori- und Waldorfpädagogik in den Unterricht an öffentlichen Volksschulen, insbesondere an den Grundschulen, mit einbezogen werden?
2. Sind diese Zielsetzungen auch mit den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse vereinbar? ...
Diese beiden Fragen werden in dem Schreiben des Staatsministeriums als Schwerpunktfragen bezeichnet, die sich aus einem Beschluß des Bayerischen Landtags vom 26. Oktober 1976 (Drs. 8/3643) stellen. Der Landtag hat in diesem Beschluß die Staatsregierung ersucht, „das Bildungsforschungszentrum zu beauftragen, in Lehrplan- und Organisationsentwicklung und in der Lehrerfortbildung bei neuen Planungen vermehrt auch die Zielsetzungen der Waldorf- und Montessorischulen einzubeziehen und zu prüfen, ob sorgfältig vorbereitete Modellversuche durch geführt werden können". Aus dem Vorgang und aus der Fragestellung des Staatsministerium ist zu entnehmen, daß es nicht etwa um die Klärung der Frage geht, ob das eine oder andere didaktische oder heilpädagogische Element aus dem Erfahrungsbereich der Waldorf- und Montessorischulen versuchsweise in die Erprobung verschiedener alternativer Bildungs-, Erziehungs- oder Heilmethoden aufgenommen werden soll. Die Frage geht vielmehr dahin, ob und wieweit die Zielsetzungen der beiden genannten pädagogischen Systeme vermehrt in die weitere Entwicklung der Lehrpläne (also der Bestimmung der Bildungs- und Erziehungsziele wie der Bildungsinhalte) für das öffentliche Schulwesen Eingang finden sollen bzw. können.
Die Formulierung der beiden vom Staatsministerium gestellten Fragen läßt erkennen, daß im Hintergrund der Einholung der gutachtlichen Stellungnahme Art. 135 der Verfassung des Freistaates Bayern zu sehen ist. Dort wird bestimmt: „Die öffentlichen Volksschulen sind gemeinsame Schulen für alle
volksschulpflichtigen Kinder. In ihnen werden die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen." Aus der Bestimmung der Verfassung ergibt sich, daß eine Verneinung der Frage 2 im o.g. Schreiben des Staatsministeriums auch eine Verneinung der Frage 1 nach sich ziehen muß, während im Falle einer positiven Beantwortung der Frage 2 die Frage 1 nach sonstigen verfassungsrechtlichen, gesetzlichen und nicht zuletzt pädagogischen Gesichtspunkten zu prüfen bleibt. Von der sachlichen Kompetenz her wird sich ein Theologe als Gutachter insbesondere der Frage 2 zuwenden. Er kann damit angesichts der verfassungsrechtlichen Lage material einen entscheidenden Beitrag zur Beantwortung der Frage 1 leisten. Für die über die Konsequenzen der Antwort zur Frage 2 hinausgehenden Problemstellungen der Frage 1 muß er freilich seine nur partiell gegebene Zuständigkeit berücksichtigen.
Die nachfolgende Stellungnahme untersucht dieser Sachlage entsprechend unter II die Zielsetzungen der Waldorf- und Montessoripädagogik auf deren weltanschauliche Eigenart und Relevanz. Unter III wird zur Vereinbarkeit der Zielsetzungen der beiden pädagogischen Systeme mit den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse Stellung genommen. Unter IV soll das Problem des Einbeziehens der beiden Systeme in den Unterricht an öffentlichen Volksschulen in einem weiteren Sinne unter Beachtung der dargelegten Kriterien einer sachlichen Kompetenz des unterzeichneten Gutachters angegangen werden. Abschließend werden die Ergebnisse der Stellungnahme in einer kurzen Beantwortung der beiden Schwerpunktfragen zusammengefaßt. ...
Gutachten des bayerischen Kultusministeriums über die Waldorfpädagogik (1977)