Rudolf Steiner: Die Schulgewohnheiten der niederge-henden Zeit und die Schulpraxis des kommenden Tages
Vortrag, gehalten im Elternabend am 11. Juni 1920
Aus:
Rudolf Steiner in der Waldorfschule tb 6710
GA 298, S. 44
Kurzfassung [RB]
1. … [das Thema ist] für Sie alle, nachdem unsere Waldorfschule ins Leben trat, mehr als ein bloßes Denkproblem geworden. … Sondern eine Frage, in der Sie ernstliche Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der heutigen Zeit finden. Und Sie haben […] bewiesen, daß Sie Vertrauen haben können zu dem, was in dieser Schule als Neues versucht werden will. Aus dem Empfinden dieses Vertrauens möchte ich versuchen, zu einer Art von Urteil dadurch zu kommen, daß ich alles dasjenige zu beleuchten unternehme, was als Zurückbleibendes, Absterbendes hinter uns liegt, und daß ich ins Auge zu fassen versuche, was uns jetzt schon aus der bisherigen Arbeit unserer Schule wie eine Ermutigung entgegentreten konnte.
2. […] Soviel man auch noch vor der Kinderstube hat zurückhalten können von dem bezeichneten eingeschachtelten Leben, alles das […] wird von dem ersten Schultag […] so wirksam, daß man ohne Übertreibung von einer bedeutsamen Krisis im Leben des Kindes sprechen kann. Diese Krisis besteht darin, daß das Kind sich gegenübergestellt sieht einem fertigen System innerhalb der alten Schulgewohnheiten, die etwas haben, […] was feststeht als eine überlieferte umfassende Methode, und […] auch eine ganz bestimmte Art, besonders die Disziplin in der Schule auszuüben. […] Diese Methode stammt aus Lebensvoraussetzungen der Menschheit, die im Grunde genommen längst überholt waren. […] Sowie das Kind am ersten Schultag in die Stunde kam, erlebte es […] auch eine soziale Krisis. An diesem Tage, […] wurde ihm jenes Gift, das die Spaltung der einzelnen Gesellschaftsschichten gemacht hat, eingeträufelt. […]
3. Wie muß sich ein derartiges ausleben? Das werden wir wissen können, so wie es uns die Geisteswissenschaft heute herausgearbeitet hat. […] Wirkliche Lebenskräfte, die sich betätigen wollen in einem naturgemäßen Unterricht, sind zurückgedämmt worden. Alles was so zurückgestaut (50) wird, das bewirkt jene […] Zeitkrankheit […], die sich auf dem Gebiete des Schulwesens offenbart.
4. […] Unsere Volksschüler verlassen die Schule mit dem fünfzehnten Jahr. Menschen […] werden die Erscheinung bemerken, daß etwas wie eine gewisse Herbheit sich ausprägt im Antlitz dieser Menschen. […] Wie kann es anders sein, wenn Empfindungsfähigkeiten nicht zu bildenden Kräften zu werden vermögen im Schicksal dieser Menschen? […]. Man bemerkte aber nicht, daß […] die Menschen […] unfähig wurden, die deutsche Sprache und die Sprache der Tatsachen zu verstehen. […] Wir [sehen] die verhängnisvolle Wirkung so arbeiten […], daß die Kräfte hintangehalten werden, die organbildend sein können und Bildung beeinflussend im tiefsten Sinne des Wortes, daß andererseits die Kräfte, die nicht einströmen konnten, wuchern mußten. Dort, wo ein Gefühlsleben nicht gepflegt wird, hat es die Neigung, zur Sentimentalität zu gelangen auf Schritt und Tritt. Der Wille, was wurde aus dem? Entweder er wurde so gebrochen, […] oder auf der anderen Seite [haben wir] jene brutalen Gewaltmenschen, die in die Welt so hineintreten, daß sie alles unter ihren Füßen zusammenstampfen […].
5. […] Kritik [an den Fehlern der heutigen Pädagogik] ist in Hülle und Fülle ausgeübt worden. […] Man wird dazu kommen, die Kritik aufzupeitschen zu einer gestaltenden Tat. […]
Seit jenen Tagen ist man nicht müde geworden, immer wieder das Wort «Einheitsschule» zu gebrauchen als einen Titel für die Bestrebungen, die meinten, sich mit der Zeit in Verbindung zu setzen. Aber […] wir […] werden wir nicht umhin können zu sehen, was wie eine schwarze Gefahr uns gegenübertritt. […] Sie werden finden, daß der Beamte […] viel mehr zersetzen kann, als innerhalb des alten Systems. […] Gegenüber diesem brutalen Willen wird man nicht umhin können zuzugeben, daß es nicht leicht möglich werden wird, jenes Bildungsideal durchzuführen. Wir werden gewärtig sein müssen, daß mehr als früher bestimmt werden wird, was als Unterricht ans Kind herangebracht werden soll, namentlich im Geschichtsunterricht. […]
Alledem gegenüber steht unsere Welt von heute, die Not der Zeit, die noch nach ganz anderem verlangt als demjenigen, was man als einen schwachen Zukunftsschimmer ausgießen möchte über das Schulwesen und darüber hinaus. Warum können die Neuerungen nicht zu jenem Ziele führen? Wir kommen zu einem eigenartigen Gesetz: Wenn irgendwo etwas gedacht wird, und es sich nicht auszugießen vermag, weil es nicht durchdrungen ist von der ganzen Energie des Menschenwesens, so wirkt es so, daß dies nicht eine Verminderung des Negativen ist, sondern sich verbindet mit den negativen Zuständen. Es fließt unterirdisch da hinüber. So hat es Lichtwark ausgedrückt: Teilreformen bewirken nur eine Verstärkung der bereits bestehenden Tendenzen. - Alles andere ist zu erwarten als eine Neugestaltung. Wir können nur eine weitere Verstärkung der schon vorhandenen Bestrebungen erwarten.
6. Nun, dieses Bild habe ich vor Ihnen aufgerollt, […] weil wir, wenn wir jenes Bestreben unserer Freien Schule richtig ins soziale Leben der Zeit hineinfließen lassen wollen, wissen müssen, welche Gefahr uns von dem alten Schulwesen droht […] wenn nun das Elternhaus der Schule so gegenübersteht, wie es innerhalb der alten Schulgewohnheit der Fall ist […].
Entweder es bestand ein Kampf, oder es bestand dies, was man nennen kann ein Hinundherwerfen zwischen Elternhaus und Schule. Denn wie häufig treten Sie der Meinung gegenüber, daß die Eltern froh sind, sobald die Kinder in der Schule sind. Sie möchten sie den ganzen Tag in der Schule haben und sind sehr aufgebracht über alle Zumutungen, die gemacht werden, daß sie die Tätigkeit der Schule unterstützen sollen. Das Kind übernimmt alle Nuancen, die in seiner Umgebung angeschlagen werden, in feiner Weise. Wenn das Kind beobachten kann: Was mir in der Schule gesagt wird, das wird zu Hause anders betrachtet! - dann kommt das Kind in einen Zwiespalt, und diejenigen Wirkungen, die auf das Kind ausgehen sollen, können nicht ausgehen.
Nachdem wir unsere Schule ins Leben gerufen haben, […] da sind die alten Schulgewohnheiten lebendig geblieben, so daß Menschen, die innerhalb dieser Gewohnheiten groß geworden sind, die Voraussetzungen aus einem Alten ins Neue hineintragen. […]
Es kann vorkommen, daß Menschen besorgt sind, wenn man nicht nachweisen kann in unserer Schule, die alle Kräfte entwickeln will: warum hat das Kind das oder das noch nicht gelernt und so weiter? Man ist in großen Sorgen. Man sollte berücksichtigen, daß diese Sorgen ungerechtfertigt sind, daß wir dann nicht sprechen dürfen von einer neuen Schule, sondern daß wir die alten Schulgewohnheiten in irgendeiner umgeschachtelten Form in die Schule aufgenommen (54) hätten.
Dasjenige, was in der Waldorfschule abweichend gemacht wird von den alten Schulgewohnheiten, wird so gemacht aus einer Praxis, die nicht aus einer verstandesmäßig erklügelten Anschauung erfließt, sondern aus jenen Kräften, die sich auf die Werdekräfte der jungen Menschen und des Volkes selbst beziehen. Indem wir Ihnen diese Zusicherung geben, dürfen Sie sich mit Ihren Vertrauenskräften genug verbunden fühlen. Sie werden die Geduld haben müssen, wenn Sie abwarten wollen das, was da reift. […] Schöpferkräfte können nur aus solchen Schulen kommen, wo Schöpferkräfte nicht zurückgestaut werden, sondern wo sie entwickelt werden, so daß der erste Tag in der Schule nicht eine Krisis bedeutet, sondern das Kind so hineinführt, daß es aufgeschlossen wird für das Leben später; so daß es die Schule verläßt, nicht als Gewaltmensch, nicht als bloß mit Kopfwissen beladener Mensch, sondern als Mensch, der eine neue Bildung zu vertreten vermag, die wahre Menschenbildung der neuen Zeit. In der wahren Erkenntnis des Menschenwesens liegt das Unterpfand für die Entwickelung unseres Volkes in der Zukunft.
7. Auch diese Aufgabe ist groß, aber es ist ein Zeichen unserer Zeit, daß sie herb ist. Man will vor dem Antlitz unserer Zeit nicht so klaren Blickes stehen, daß man die verbitterten Züge sehen will. Man will Schleier über Schleier vor dieses Antlitz ziehen und will sich seinen Anblick deswegen fernhalten, weil man die Sprache fürchtet, die aus dem Antlitz redet. Herb und groß sind die Aufgaben, die wir übernommen haben. Aber wir glauben, daß es Menschen geben kann, die die Aufgaben doppelt zu lieben vermögen, weil sie herb und groß sind. Wir vereinigen uns mit Ihnen in der Hoffnung, daß Sie sie lieben lernen werden, weil es eine herbe Aufgabe ist. Aus der Herbheit wird die Frische entspringen können.
Herb und scharf ist das, was wir zu vertreten haben; aber diese Herbheit wird uns die Kraft geben, hier von der Freien Waldorfschule aus der niedergehenden Zeit ein Flammenzeichen auf die Stirne zu schreiben. Sie möge, während sie dahinlebt im Phrasentum, die Kraft finden, einen kräftigen Tod zu sterben, daß darauf fallen möge die Sonne des kommenden Tages.