Manifest des Attentäters Heung-Sui Cho
Einige bemerkenswerte Umstände
Kommentare zum Massaker in Blacksburg
«Nur ein Amokläufer? Sozialpsychologische Zeitdiagnose nach Erfurt» Dr. Richard Albrecht
¶ Krieg. Die Liebe zum Leben in sich intakt erhalten; niemals den Tod zufügen, ohne ihn für sich selber hinzunehmen.
¶ Verhielte es sich so, daß das Leben von X … mit dem eigenen Leben derart verbunden wäre, daß sein Tod gleichzeitig den eigenen Tod bewirkte, wollte man dennoch, daß er stürbe? Wenn der Leib und die ganze Seele inbrünstig nach dem Leben verlangen und man dennoch, ohne zu lügen, hierauf mit Ja antworten kann, dann hat man das Recht zu töten.
Simone Weil
Seung-Hui Cho:
«Ihr habt mein Herz verwüstet, meine Seele vergewaltigt und mein Gewissen in Brand gesetzt.»
Eine Betrachtung zu den Aussagen des 23jährigen Selbstmordattentäters Cho Seung-Hui aus Südkorea zu seiner Tat in Blacksburg am 16. April 2007 (US-Staat Virginia)
Übersicht:
Ein Amokläufer?. 2
Das Motiv oder: Gedanke und Tat 3
Gesucht wird Jesus Christus. 7
Was wir nicht verstehen, aber lernend verstehen sollten. 8
Was heißt: ‹Ich verstehe nicht›?. 8
Was es zu verstehen gilt 9
Wie können wir verstehen lernen, was wir nicht verstehen?. 11
Vom Erleben des Unverstandenen (I) 13
‹genitivus objectivus› 13
Um Erleben des Unverstandenen (II) 15
‹genitivus subjectivus› 15
Der Selbstmordattentäter als Spiegel unseres Unbewußten. 15
Seung-Hui ist kein Amokläufer. Amokläufer planen ihre Tat nicht. Amokläufer schreiben auch keine Manifeste.[1] Was Seung-Hui geschrieben oder auf seinen Videos gesagt hat, ist uns bis auf ein paar den Medien hingeworfene Brocken (Video) und hier (Text) unbekannt geblieben. Wir erfahren auch den guten Grund dafür: Es gäbe sehr viele potentielle Attentäter, die nur deshalb ‹schlafen›, weil sie noch nicht erklären können, was sie schon längst tun wollen. Anscheinend sind es nicht die Videospiele, sondern die Gedanken, die zu einer solchen Tat führen. Oder müssen wir sagen: Verleiten? …
«Nicht schon wieder! So mag es vielen durch den Kopf geschossen sein, als uns am 16. April die Nachricht vom Amoklauf in Blacksburg erreichte. Nicht einmal ein halbes Jahr war vergangen seit dem blutigen Schulattentat von Emsdetten am 20. November 2006.» (Carsten Könneker, Chefredakteur ‹Gehirn und Geist, Sonderheft Juni 2007 Thema: Jugendgewalt) Der Chefredakteur merkt anscheinend nicht, welches Bild er verwendet: Gedanken, die durch den Kopf schießen beziehungsweise die geschossen werden.
Seung-Hui hat seine Opfer durch den Kopf geschossen. Genauer gesagt: Er hat ihnen seine Gedanken mit Hilfe einer Kugel durch den Kopf geschossen. Er wollte offenbar, daß jemand seine Gedanken ernst nimmt. Er hatte einfach nicht begriffen, daß wir in unserer Zeit Gedanken nicht ernst nehmen wollen. Oder können wir das nicht, weil wir gar keine Gedanken haben?
Schon gar nicht ernstzunehmen sind für uns heute wohl Gedanken von Schülern, die sie ohne Aufsicht und Kontrolle durch den Lehrer zu denken Veranlassung finden. Sie sind ‹nicht produktiv›. Das heißt sie tragen nicht zum künftigen Bruttosozialprodukt bei. Gedanken sind ja für den Biologie-Lehrer überhaupt bloß elektrische Entladungen im Gehirn. Das Gehirn soll ja auch keine eigenen Gedanken haben, sondern nur elektrische Aktivitäten aufweisen, die letztlich der Güter-Produktion nützen. Hat Cho Heung Sui genau das begriffen? Wenn ein 21jähriger junger Mann sich selbst und 32 weitere Menschen nach einem exakten Plan tötet, muß er einen Grund gehabt haben. Aber einen solchen Grund kann es ja gar nicht geben, wie wir doch wissen. Denn wir müssen voraussetzen: die Motive der Selbstmordattentäter sind letztlich ‹unergründlich›.
«Die Establishment-Stimmen in der ‹New York Times› oder der ‹Washington Post› sollen aufhören, Cho und sein Manifest hochzuspielen: Da seine Motive letztlich unergründlich sind, soll er zumindest nicht zum Beispiel für potentielle Nachahmer werden.» So tönt der ‹Rheinische Merkur› in der 17. Ausgabe 2007, eine Woche nach dem Blacksburg-Massaker, während Sozialpädagogen, Psychologen, Videospielkritiker und Waffengegner um die Deutungshoheit auch für diesen Fall wetteifern.
Dagegen lesen wir aber auch solche Stimmen aus dem Off: «Warum in aller Welt fällt es denn so schwer, in diesen Stunden und Tagen nach dieser für alle Beteiligten (auch für den Mörder) fürchterlichen Tat einen Artikel zu schreiben, der vorsichtig und verständnisvoll nach dem ‹Was?› ‹Wie?› ‹Warum?› und ‹Weswegen?› fragt? Nicht wahr, solch eine Tat und die zugehörige Meldung wollen so gar nicht in das universal heile Bild passen, das uns die internationale Presselandschaft vom Leben zu suggerieren pflegt. Alles ist einfach, bequem, Lifestyle, Probleme wie Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung usw. begrenzt und technokratisch abhandelbar, alles ist verständlich oder wissenschaftlich zu erklären. Und dann passiert so etwas ‹Ungeheuerliches› und alle sind sprachlos, ratlos, erklärungslos. Und was passiert? Man schiebt das Geschehene mit dem Alibi des ‹Außergewöhnlichen›, ‹Beispiellosen›, ‹Unbegreiflichen› oder sonst einer leeren Worthülse beiseite, grenzt es aus, will es gar nicht ergründen oder gibt die Erklärungsversuche an sogenannte Experten weiter. Sehen Sie, das ist genau der Grund, warum die Band ‹Rammstein› so kontrovers behandelt wird. Auch sie zeigt, daß die Schattenseiten des Menschlichen auch zum Gesamtbild gehören. Das Abgründige ist Teil von uns allen!» Quelle (FAZ.net, Leser Jörg Esch)
Das Abgründige ist Teil von uns allen? Welch abgründige Einsicht! Was aber steht hier immer noch nicht zur Debatte? Doch die Frage, wie wir mit dem ‹Unergründlich-Abgründigen›, das eruptiv in ‹unsere Welt› einbricht, eigentlich umgehen wollen. Oder wir es benennen könnten, damit wir es besser umgehen können? Der Leserbrief von Jörg Esch stellt von einer nicht thematisierten dritten Position aus zwei Positionen gegenüber: Die eine stelle sich auf den Standpunkt, die Motive der grausamen Tat seien unergründbar. Die andere warte mit fachmännischen ‹Erklärungen› auf, die den Blick auf die wahren Motiven und damit ihre Ursachen verschleiern.
Ich möchte die Anregung von Jörg Esch aufgreifen und der Frage nachgehen, wie man nach einer Erklärung suchen könnte, ohne damit zugleich das Phänomen zu verdecken.
Selbstmordattentäter meinen wir bereits aus den Nachrichten zu kennen. Es handelt sich um irregeleitete junge Männer, denen die Menschen- und Weltauffassung westliche Zivilisation als tödlicher Feind der menschlichen Seele dargestellt wurde. Seltener erfragen wir, was sie selber zu wissen glauben: daß es nämlich für ihre Opfer, namentlich für junge Menschen besser sei, durch die Tat eines ‹heiligen Kriegers› zu sterben und durch so dessen Selbst-Opfer die Rettung vor dem sonst gewissen Seelentod zu empfangen, statt in seinem erst begonnenen Erden-Leben durch die bewußtlose Hingabe an die westliche, satanische Verführung die göttliche Seele ganz zu verlieren und zur ewigen Verdammnis verurteilt zu sein. Warum uns das nicht interessiert? Weil es für uns keine ‹Seele› gibt. Und weil wir deshalb auch so etwas ‹Komisches› nicht haben.
Selbstmorde von Schülern sind ein nicht gerade seltenes Vorkommnis. Sie lassen sich leicht durch Streß oder Mobbing, juvenile Depression, oder ‹Lebensüberdruß› erklären. Was aber kann einen dieser nicht seltenen suizidalen Jugendlichen aber dazu bringen, den eigenen Selbstmord als Massenmord zu planen und durchzuführen? Welche Kräfte müssen dazu mobilisiert werden? Und welche Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken können über den oft längeren Zeitraum der Planung diese Willensanspannung erhalten? Man muß sich ja vorstellen, daß in dem potentiellen Täter die Ungeheuerlichkeit der geplanten Tat fortwährend schwerwiegende Einwände aufrufen wird, daß ihm ihr Zweck immer wieder fraglich erscheinen muß, und vor allem: Daß die gesteigerte Aktivität der Planungsphase die vermutete depressiv-suizidale Stimmung immer wieder überwinden muß. Offenbar ist die Vorstellung einer bedeutenden Wirkung der geplanten Tat auf die Mitwelt dabei leitend. Wer sich eine Wirkung seiner Tat vorstellt, die über das bloße Entsetzen der Öffentlichkeit hinausgeht, macht sich Gedanken darüber. Er möchte, daß seine Tat diese Gedanken zum Ausdruck und darüber hinaus zur Wirksamkeit bringt. Die Planung berücksichtigt diesen Aspekt in vorderster Linie. Würden die Gedanken des jugendlichen Selbstmordattentäters unbekannt bleiben, würde die Tat als Handlung im Affekt erscheinen, erfüllte sie ihren Zweck nicht; sie könnte dann auch gleich unterbleiben.
Dieser Zusammenhang von Gedanke und Tat leuchtet nur der Polizei und den Behörden sogleich ein. Das Bekennerschreiben, der Abschiedsbrief oder das Manifest wird umgehend sichergestellt und vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen, der Täter seines geistig-seelischen Profils beraubt und zur leeren Projektionsfläche für die amtlich genehmigten Interpretationen hergerichtet. Dieses Vorgehen wird meist mit dem Hinweis auf mögliche Nachahmungstäter begründet (à‹Werther-Effekt›), oder auch mit der ‹Beleidigung› der Opfer, die anscheinend darin besteht, daß sich die Öffentlichkeit mit den Gedanken des Täters beschäftigt als wäre es undenkbar, daß das Leben von Menschen aufgrund von Gedanken anderer Menschen statt durch den ‹unerforschlichen Ratschluß Gottes› beeinflußt und beendet wird. Man hat sich nach Maßgabe der polizeilichen Vorgaben also vorzustellen, daß eine unbekannte Anzahl von jugendlichen Selbstmordattentätern nur deshalb nicht aktiv werden, weil ihnen bislang keine Begründung für ihre Mordgelüste eingefallen ist. Man geht dort davon aus, daß es ihnen gar nicht um die Tat als solche geht, sondern um die öffentliche Selbstdarstellung als ein gedankenmächtig Handelnder, der seinen ihm bedeutsam erscheinenden Innenerlebnissen durch seine Tat und den abschließenden Selbstmord jene Bedeutung und Weihe erteilt, die ihnen seiner Empfindung nach zukommen sollten.
Wenn die Gedanken des Täters tatsächlich jene zentrale Bedeutung für ihn haben, so muß er sie vordringlich vor der Zersetzung und Zerstörung schützen, wie sie bei einer Therapie, einer Vernehmung oder gar Gerichtsverhandlung unvermeidlich wäre. Begeht der Täter seine Tat, weil seine Gedanken und die ihnen zugrundeliegenden Gefühle durch sie zum wirksamen Ausdruck kommen sollen, dann geht er ja davon aus, daß es eine andere Möglichkeit des Ausdrucks nicht gibt. Kurzum: Wer die Gedanken der jugendlichen Attentäter vor uns verstecken will, der rechnet ihnen genau die Bedeutung zu, die sie angeblich nicht haben: Daß Gedanken die Ursache der Tat sind, deren Nach-Erdenken die Tat eben verständlich machen. Oder wie mir ein Kollege sagte, nachdem er in einer meiner Unterrichtsstunden in einer 12. Klasse über den Abschiedsbrief des Sebastian Bosse hospitiert hatte: «Ich würde mich nicht trauen, diesen Brief zu behandeln.» «Warum nicht?» «Woher wissen Sie, daß nicht einer von denen morgen auch so etwas macht.» «Warum sollten diese Jungs so etwas machen?» «Der Bosse hat doch recht. So ist es doch.» «Nun, ich traue mich diesen Brief zu besprechen, weil gerade dies von dem abhält, was sie alle zu solchen Taten inspiriert: Daß wir ihre Gedanken nicht ernst nehmen.» Siehe Erfurt: «‹Robert!› - Mit diesem einen Wort hat sein Lehrer Rainer Heise den Rasenden nach dessen 16. Mord aufgehalten. Die dann folgende Frage, ‹was denkst du dir eigentlich dabei?›, war buchstäblich entwaffnend.» Warum? Weil diese Frage in dieser Situation ersichtlich ernst gemeint war.
Paradox oder ‹normal›?: Was mit den gewohnten Vorstellungen als ‹nicht nachvollziehbar› ‹erkannt› wird, ist damit erklärt: Es ist eben prinzipiell unverständlich. Da zudem Kinder und Jugendliche über ihr Motiv zur Gewaltausübung in den seltensten Fällen diejenige klar strukturierte Auskunft geben können, die wir erwarten, müssen eben einleuchtende Motive erst durch soziologische, psychologische oder kriminalwissenschaftliche Spekulationen erfunden werden. Dies gilt vor allem dann, wenn, wie es bei den seit den späten 90er Jahren sich wiederholenden Schulmassakern der Fall ist, der Täter, seine furchtbare Tat abschließend, sich selbst tötet. Was man vonseiten der bezeichneten Fachleute über die vermuteten Motive zu hören bekommt, reicht vom allgemeinen Hinweis auf den ‹Aggressionstrieb›, über die Imitationsthese (Computerspiele, gewaltverherrlichende Medien würden nachgeahmt), bis zum Hinweis auf widrige soziale Umstände oder auch auf Manipulation durch dritte. Wenn diese Erklärungen offensichtlich doch nicht hinreichen, bleibt als letzter Ausweg die psychiatrische Störung, durch welche die Unerklärlichkeit der Tat selbst als Erklärung herhalten muß.
Es fällt auf, daß die uns von den Fachleuten gelieferten Erklärungen einem bestimmten Muster folgen[2]: Der jugendliche Täter wird als abweichender Einzelfall von einem angeblichen Normalverhalten definiert. Als normal gilt zum Beispiel, wer die Mordszenen der Computer-Killerspiele ‹virtuell› erleben will; von dieser Norm abweichend dagegen sind diejenigen, die diese Taten in der Realität ausführen. Nun, man kann diese Art von Sorge durchaus begrenzen: solange das reale Massenmorden der Kriegsschauplätze noch nicht zum Massensport im eigenen Multi-Kulti-Stadtteil geworden ist, wird Gott sei dank dort immer nur eine Minderheit nach diesem vorgegebenen Muster tätig werden. Um dieser Minderheit Herr zu werden, so erfahren wir, bedarf es präventiver Maßnahmen: Man muß ‹potentiellen Gewalttätern› die Möglichkeit zur Gewaltausübung nehmen, sie in ihrem Umfeld anhand bestimmter Verhaltensmerkmale rechtzeitig rekognoszieren, sie womöglich psychologisch und medizinisch behandeln oder auch isolieren, und so weiter. Aufgeklärte Fachleute weisen darauf hin, daß eine wirksame Prävention nur erreicht werden könne, wenn die von ihnen erkannten sozialen Ursachen abgestellt würden. Andere betonen die präventive Aufgabe der Erziehung, der Schule, und deuten auf die Mängel, die in den staatlichen Erziehungsanstalten ihrer Meinung nach feststellbar sind. Der Ruf nach mehr Geld für eine bessere Lehrerausbildung, für mehr Psychologen und Sozialarbeitern an den Schulen, für schönere Dekorationen der Schulgebäude und so weiter sorgen bleibt nicht ungehört. Die von dem Attentäter Sebastian Bosse heimgesuchte Geschwister-Scholl-Realschule in Emsdetten hat bereits eine Woche nach dessen öffentlichen Selbstmord gehandelt und die Gebäude innen und außen mit einem neuen Anstrich versehen.
Es ist in dieser Hinsicht erstaunlich zu sehen, wie mit jedem neuen Schulmassaker mit jugendlichen Tätern der intellektuelle Aufwand für die Begründung der Tat steigt.[3]. Sagte noch Brenda Ann Spencer 1979, als sie nach ihrem Motiv gefragt wurde, bloß: «I don't like Mondays!», so erklärte 1992 der einer traditionellen sino-amerikanischen Familie aufgewachsene musikalisch begabte, äusserst ehrgeizige Wayne Lo, nach dem Studium der Apokalypse sei er sich seines Auftrags bewußt geworden, ‹das Böse in seinem College zu vernichten›. Eric Harris und Dylan Klebold hatten nur eine Anzahl ungeordneter Tagebuchnotizen und eine Anzahl von offiziellen Schularbeiten (u.a. zum Thema: ‹Guns in School›) hinterlassen[4], aber kein Manifest. Auch von Robert Steinhäuser, dessen Tat sich ausschließlich gegen Lehrer richtete (zwei Schülerinnen wurden getötet, weil er auf der Suche nach weiteren Lehrern durch eine zugehaltene Tür schoß) ist kein ‹Bekennerschreiben› bekannt. Erst Sebastian Bosse[5] sorgte dafür, daß seine ausführliche Selbsterklärung öffentlich wird. Seung-Hui vertraute am 16. April 2007 sein ausführliches Maifest NBC an, ohne zu realisieren, daß es damit geheim bleiben würde. Man kann aber seine Gedankenwelt aus den veröffentlichten Videobruchstücken erschließen. Wenn man sich denn die Mühe machte. Und der hochintelligente Finne Pecca-Eric Auvinnen, der sich den deutschen Alias ‹Strumgeist89› gab (eine Anspielung auf sein Geburtsjahr und auf das Jahr 1889, Geburtsjahr Adolf Hitlers und Martin Heideggers, aber auch auf 1789, das nach den Worten des Grafen St. Germain den Sturm brachte, den man als Wind gesät hatte) nannte sich vor seinem Selbstmord-Attentat einen ‹arbeitslosen Philosophen›, er sei ein ‹zynischer Existenzialist, anti-humanistischer Humanist, anti-sozialer Sozialdarwinist, realistischer Idealist und ein gottgleicher Atheist›. Er sah sich veranlaßt, die Grundgedanken des radikalen finnischen Ökologen Pentti Linkola in die Tat ‹umzusetzen›. Endlich ein Motiv? Ja, durchaus, wenn man nicht ein ‹nachvollziehbares Motiv› das es nicht geben kann suchte, sondern sein Motiv suchte, um es erstmals zu denken. Genau davor soll uns aber die amtliche Sekretierung seiner Bekenntnisse schützen. Wovor also sollen wir geschützt werden?
Wenn Seung-Hui ergründbare Motive hatte, wäre seine Tat erklärlich. Wenn eine Handlung erklärlich ist, muß sie als Reaktion auf Tatsachen und Gegebenheiten verstanden werden, die durch diese Handlung verändert werden sollen. Verändert werden sollen also durch Taten erzeugte Tatsachen, die außer mir auch andere sehen oder erleben und dabei zu ähnlichen Handlungen kommen könnten, wenn die Gegebenheiten nicht anders geändert oder bewältigt werden. Andererseits ist es der persönliche Blick auf diese Gegebenheiten, die sie als gemachte und veränderbare Tatsachen und damit als Handlungsmotive erscheinen lassen: Meine Vorstellungen von der Menschen-Welt und mir selbst liegen meiner Sichtweise auf die Gegebenheiten zugrunde und lassen diese in einem Licht erscheinen, die von anderen Beobachtern nicht unbedingt geteilt werden. Da aber alle Beobachter trotz verschiedenster Stand- und Gesichtspunkte doch in derselben Welt leben, müssen ihre unterschiedlichen Urteile, falls sie sich gegenseitig ausschließen, zum Kampf der Weltauffassungen führen, die sich in den unbewußten Voraussetzungen spontan geltend machen letztlich also zum Kampf aller gegen alle mit allen Mitteln.
Bei dieser heute anscheinend gar nicht mehr so fernen furchtbaren Perspektive ist die Frage ungestellt: Gibt es denn eine Möglichkeit, die vor den jeweiligen Urteilen liegende gemeinsame Grundlage derselben das Denken, aus dem echte Urteile erst hervorgehen können in diesem Kampf nicht ganz zu verlieren? Wie denn? Das Urteil: ‹Die Motive der Gegner unserer Weltauffassung sind unergründlich› verleugnet diese Möglichkeit schon im Ansatz. Das für uns Unvorstellbare wird zum an sich Unergründlichen überhöht. Man geht alsdann kopfschüttelnd mit der Forderung an die Polizei: ‹Das darf nicht wieder passieren!› zur sogenannten Tagesordnung über. Bis zum nächsten ‹Einzelfall›.
Ich kann mich zu dieser Haltung nicht verstehen, weil ich an die Macht des Denkens glaube, auch das angeblich ‹Unergründliche› zu erfassen und damit einen Weg zum Frieden zu suchen. Wenn ich aber andererseits in meinem Glauben an die Weltmächtigkeit meiner gewohnten Begriffe diese auf die Tatsachen anwende, wird mir bald ‹alles klar› erscheinen. ‹Alles klar?› ‹Alles klar!› Was uns demnach als eine schlüssige Erklärung der Tat gilt, verdeckt uns ihr Rätsel also den verborgenen Zusammenhang solcher Taten mit der Art von Erklärungen, aus denen wir die geheimnisvolle Menschen-Welt als verstandene vor uns hinstellen und dabei vergessen, daß wir uns ja nicht außerhalb, sondern innerhalb ihrer befinden. Und daher eigentlich nicht wissen können, was das ist, das in ihr vorgeht. Es sei denn, man hätte eine ‹Wissenschaft vom Menschen› als Glied einer umfassenden Wissenschaft vom Geist›.
Ronald Düker weist in der ‹Netzeitung› auf die Besonderheit hin, daß Seung-Hui Cho sich selber in der Nachfolge Christi sah und auch so darstellte. In seinem Manifest gibt sich Cho «als Messias aus und tituliert seinen Amoklauf mit anschließendem Selbstmord ganz unumwunden als imitatio christi: ‹Ihr habt entschieden, mein Blut zu vergießen›, heißt es dort, und ‹dank Euch sterbe ich wie Jesus Christus, um Generationen schwacher und schutzloser Menschen zu inspirieren›.» Christliche Organisationen in den USA haben auch sogleich reagiert, indem sie Seung-Huis Lebenswandel und Tat als unchristlich dargestellt haben. Düker kommentiert: Es
«fällt vor allem die Diskrepanz zwischen Chos Selbstdarstellung und seinem Status als Einzeltäter auf, den er mit anderen Amokläufern gemein hat. Religion ist schließlich ohne den gemeinschaftlichen Hintergrund, ohne Gemeinde, nicht denkbar. Wo aber ist Chos Gemeinde? Wer sind die Schwachen und Schutzlosen, zu deren Erlöser er sich durch seine Gewalttat aufgeschwungen zu haben behauptet? Nichts deutet darauf hin, dass es sie gibt und Cho daher so etwas wie eine Stellvertreterfunktion beanspruchen könnte. Niemand profitiert von seinen Morden. Kein Schwacher wird durch sie gestärkt, kein Schutzloser beschützt. […] Die Psychiatrie würde Cho vielleicht einen Christuskomplex attestieren, eine besondere Variante psychotischen Identitätsverlusts. Auch hier hat man es mit Hirten ohne Herde zu tun, mit egomanischen Exzentrikern, deren Krankheitsbild sich nicht zuletzt dadurch definiert, dass die vorgestellte Rolle keinerlei sozialen Widerhall findet.»
Nachdem Düker Parallelen zu dem jüngst erst publizierten Text von Klaus Kinskis Skandalauftritt «Jesus Christus Erlöser» am 20. November 1971 in der Berliner Deutschlandhalle hergestellt hat (Kinski: «Gesucht wird Jesus Christus, angeklagt wegen Verführung zu anarchistischen Tendenzen, Verschwörung gegen die Staatsgewalt.»), kommt er mit einem Schlenker über den Wiener Kaplan Adolf Holl, der im selben Jahr dieselben Thesen in seinem Buch «Jesus in schlechter Gesellschaft» formuliert hatte, auf Seung-Hui Chos Christus-Vorstellung.
«Was seine Taten und deren Wirkung angeht, hat der Killer Cho Seung-Hui mit dem Pazifisten Holl und dem Theatraliker Kinski nichts gemein. Und doch wird seine Identifikation mit einer Christusfigur, die der Gegenpol der Reichen und Dekadenten und ein Schutzpatron der Schwachen und Geknechteten ist, als pervertierte Fratze eben dieser Traditionen erkennbar. Die Entstehung solcher Denkfiguren im Kopf eines Killers zu begreifen, wäre eine ehrgeizige Aufgabe. Sie könnte Interessanteres abwerfen als ein erneuter Ruf nach dem Verbot von vermeintlich gewaltfördernden Videospielen.»
Nun, die Frage wäre ja nicht bloß die nach der Entstehung einer solchen Vorstellung, sondern auch die nach der Gemeinde, der sie gilt ist und aus der sie sich begründet. Von der Düker behauptet, es gäbe sie gar nicht. Es sieht so aus. Vielleicht aber wird sie ja erst entstehen?
Oben sagte ich: Die Motive der jugendlichen so genannten ‹Schul-Amokläufer› müssen ‹ganz natürlich› für Erwachsene aus einem für sie ‹schlüssigen› Gedankengang unergründlich bleiben: Ein Motiv müßte die Tat erklärlich machen, Ursache und Zweck benennen, den Täter als einen Handelnden beschreiben, der aus ihm mehr oder weniger bewußten, aber von dem Betrachter nachvollziehbaren Erwägungen agiert. Nachvollziehbar erscheint nur, was mit den vorhandenen Begriffen und Vorstellungen zusammengeführt werden kann. Wie aber vollziehen wir nach, was diese Voraussetzung nicht erfüllt? Antwort: Gar nicht. Es sei denn, uns steht der Begriff des Unbekannten zur denkenden Disposition, jener Begriff des Nicht-Nachvollziehbaren, den wir ja gerade in unserem Urteil angewendet haben. Wir müßten dazu nur anschauen, was wir denkend getan haben, als wir das Urteil ‹unergründlich!› fällten.
Wenn wir uns bewußt werden, daß das Urteil über die Unbegreiflichkeit einer Tatsache ein Denkakt ist, der in einem bestimmten, sich als Begriff geltend machenden Erlebnis begründet sein muß, ist der Weg frei, eine Beschreibung dieses Erlebnisses zu versuchen. Wir kehren damit die Dynamik um, die in dem ersten Urteil liegt: Statt uns von der unbegreiflichen Tatsache abzuwenden, überlegen wir, in welchem Verhältnis wir als Urteilende eigentlich zu dieser Tatsache stehen. Neben der Tatsache sollen wir uns selbst auch als Urteilende, als urteilendes Subjekt also, vor das innere Auge treten, indem wir uns daran machen, die Grundlagen dieses Urteil zu untersuchen.
Das Erlebnis ‹Ich verstehe nicht› weist uns offenbar darauf hin, daß wir die entsprechenden Begriffe und Vorstellungen nicht haben, aus denen heraus die beobachtete Tat verständlich erscheinen könnte. Wenn wir uns aber dessen bewußt wären, daß wir unsere Begriffe sowieso ja nicht fertig geliefert bekommen, sondern sie selbst erzeugen müssen zweifellos ist das die Bildungsfrage so müßten wir uns nach dem Grund fragen, warum unsere Begriffsarbeit an diesem Objekt, jener Tat also, scheitert. Kann dies an einer natürlichen Grenze des Denkens liegen? Wohl kaum. Es kann nur daran liegen, daß wir uns aus anderen Gründen von der denkenden Betrachtung des Vorgangs abwenden.
Sobald uns aber eben dies bewußt wird, wird uns klar, daß diese Abwendung nicht endgültig sein kann. Das Urteil ‹unergründlich!› entpuppt sich in diesem Moment als Pseudourteil. Wir sind uns jetzt darüber im Klaren, daß wir entweder unsere Denkfähigkeit, das heißt die Fähigkeit, an dem Vorgang die ihn erklärenden Begriffe erst zu bilden, nicht anwenden wollen. Oder wir verleugnen diese Denkfähigkeit und behaupten, da die schon vorhandenen Vorstellungen den Vorgang nicht erklären können, gebe es eben überhaupt keine Begriffe dafür. Diese Einsicht wiederum macht uns in dem Moment, wo wir sie formulieren, klar, daß wir uns dem Denken nicht entziehen können, daß wir die Begriffe eben erst noch erarbeiten müssen, aus denen uns der Vorgang verständlich wird.
Nun könnte der geneigte Leser meinen, der Verfasser renne doch offene Türen ein. Schließlich gebe es ja die Fachleute, die uns das Unverstandene so oder so verständlich machen. Das sieht manchmal so aus. Was aber tun sie in Wirklichkeit? Sie führen uns ein Verstehensritual vor, dessen suggestive Wirkung uns von der Anstrengung eigener Verstehensbemühung nachhaltig befreit. Dieses Ritual ähnelt den Zaubertänzen der Schamanen, und haben die beabsichtigte und immer wieder erstaunliche Wirkung, akute Erkenntnis-Beschwerden umgehend zu beseitigen. Sie breiten dazu vor uns ihre Begriffs-Schablonen aus, und legen sie auf ein Bild des Täters, das sie vorher zurechtgeschnitten haben. Dann stellen sie fest, daß ihre wissenschaftlichen Begriffe die Wirklichkeit voll abdecken. Sie erklären uns nicht das, was wir sehen, sondern sie ersetzen das Unbekannte und erst noch zu Sehende durch Bekanntes und demonstrieren so die Macht des Denkens, das die beunruhigenden Tatsachen durch ihre beruhigenden Erklärungen zu ersetzen vermag. Erstaunlich ist, wie uns gar nicht auffällt, daß ihre Erklärungen der Tatsachen schon fertig sind, wenn sie erstmals auftreten. Keiner von diesen Fachleuten würde etwa einmal sagen: «Das, was da gerade geschieht, verstehe ich noch gar nicht. Dies sage ich nicht aus Unwissenheit. Ein Unwissender würde leicht meinen, er verstehe sehr wohl. Ich verstehe es nicht, weil ich als Wissenschafter weiß, was Verstehen heißt. Und das kann nicht darin bestehen, Unbekanntes mit Bekanntem zu erklären. Denn wie sollte man wissen, ob das Bekannte denn zur Erklärung des Unbekannten tauglich ist? Wer in dieser Art sich die unbekannten Dinge zurechtlegt, damit sie wie bekannt aussehen, hat von wahrer Wissenschaft keinen blassen Schimmer.»
Diese noch immer nicht gehaltene Rede[6] zur Befreiung aus dem wüsten Aberglauben der in der Maske der Wissenschaft daherkommenden Denkfaulheit würde folgendes verdeutlichen müssen: Eine Erklärung der gegebenen Tatsachen kann nicht dadurch geschehen, daß wir sie daraufhin untersuchen, ob wir an ihnen Elemente finden, die mit unseren gewohnten Begriffen und Vorstellungen in Deckung zu bringen sind. Begriffe sind zwar das einzige Mittel, das uns die Wahrnehmungen verständlich machen kann. Aber wie sollten wir sicher sein, daß die Erklärungen nicht virtuelle Konstruktionen sind, die wir bloß als ‹Wirklichkeit› ausgeben? Ist es nicht so, daß wir gerade dann von ‹Wirklichkeit› sprechen, wenn uns etwas widerfährt, für das wir keine Erklärung parat haben? Müßte dann nicht der Ansatz zur wahrhaften Erklärung der Wirklichkeit ganz anders aussehen? Offenbar ist unser gewohnte Art zu denken nicht geeignet, Wirklichkeit im Denken selbst zu entdecken: Als den Einbruch eines Unerklärlichen nicht in der Wahrnehmungswelt, sondern in unser Denken? Wie sollten wir jemals die Wirklichkeit der Wahrnehmungswelt begreifen, wenn wir den Begriff der Wirklichkeit gar nicht im Denken gebildet haben? Und eben sie, wenn sie auftritt, durch unsere Vorstellungen sofort wegdekretieren müssen, weil wir sie nicht ertragen.
Sollte es einmal das Ziel einer wissenschaftlichen Selbstbesinnung werden, Wirklichkeit denkend im Denkakt zu erleben, auf daß uns die andere Wirklichkeit verständlich werde, die uns in der Wahrnehmung entgegentritt, ohne daß wir sie erfassen können, dann kann dieses Ziel nur durch eine Investigation des Denkens selbst erlangt werden. Eine solche Untersuchung unseres Denkens auf eine in ihm wirksame Wirklichkeit hin hätte aber nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es uns zum Gegenstand der Beobachtung werden könnte. Ein Denken, das für sich nicht vorhanden ist, weil es sich dauernd selbst vergißt, indem es sich an den Objekten betätigt, tritt gar nicht erst ins Bewußtsein. Man müßte also erst ein Verfahren entwickeln, das Denken von seinen Objekten abzulösen und so weit zu verstärken, daß es uns wahrnehmbar wird. (Wissenschaftlich nachvollziehbare Methoden dazu hat Rudolf Steiner[7] entwickelt.) Erst wenn wir im reinen Denken die Wirklichkeit des objektiven Denkens erfaßt haben, können wir mit der Aussicht an die Wahrnehmungswelt herantreten, in ihr die Wirklichkeit zu entdecken, die ihr eigen ist. Daß sowohl dem subjektiven Denken wie der objektiven Wahrnehmungswelt das Denken (in der Gestalt dessen, der von Subjekt und Objekt spricht) zugrundeliegt, ist die Voraussetzung jeder Wissenschaftlichkeit.
Was hat dieser Hinweis auf einen begründeten Wissenschaftsbegriff nun mit der Aufgabe zu tun, wie wir sie in dem Leserbrief von Jörg Esch am Anfang dieser Studie entdeckt haben? Ganz einfach: Die Wirklichkeit des Denkens, die aus dem Denken hervorgeht und im Denken ergriffen werden muß, ist uns in einer gewissen Art schon gegeben, bevor wir sie in uns selbst entwickelt haben. Man muß, um diese Behauptung zu stützen, bloß darauf hinweisen, daß uns das subjektive Denken eines anderes Menschen in einer Weise entgegentreten kann, die uns seinen Denkakt zur Wahrnehmung macht. Dies ist nicht dann der Fall, wenn ich die fremden Gedanken des anderen einfach mir ebenso zurechtlege, wie oben beschrieben. In den allermeisten Fällen aber geschieht genau dies. Man erklärt, die Gedanken des anderen Denkers verstanden zu haben, und interpretiert sie doch nur nach seinem Gusto so, daß sie als ‹verstanden› durchgehen können. Da jeder auch irgendwie verstanden sein möchte, wird es in den seltensten Fällen ernsthaften Widerspruch des angeblich ‹Verstandenen› geben, vor allem dann nicht, wenn der interpretierte Wortlaut ähnlich und die Folgen der versteckten Differenz noch nicht absehbar sind. Davon, daß man sich dabei gewissen Illusionen hingibt und dies meist zu spät bemerkt, lebt die Gilde der Rechtsanwälte. Wie grundstürzend für das menschliche Miteinander sich diese Illusionen auswirken, erfahren wir aber erst dann, wenn die vom oft unbewußten Mißverstehen Betroffenen aus dem Gefühl heraus, Betrogene zu sein, sich aus Wut und Verzweiflung zu Taten verleiten lassen, die jenen illusorischen Konsensus eines ‹toleranten menschlichen Miteinander› radikal in Frage stellen. Wenn wir uns erst einmal exakt vorstellend zum Erlebnis bringen könnten, wie die übliche ‹Verständigung› zwischen auch nur zwei Menschen nichts als eine bodenlose Illusion ist, dann wird die andere Vorstellung auch nicht fern sein, die erfaßt, daß sich in der Neigung zur oberflächlichen Verständigung eine Erwartung geltend macht, die auf diese Art gar nie erfüllt werden kann. Die rosarote Illusion der ‹Verständigung› beruht nämlich auf der Abneigung, sich ernsthaft für das zu interessieren, was der andere Mensch denn nun eigentlich wirklich meint. Das ist nicht so zu verstehen, als könnte man dagegen einwenden, die meisten Leute wüßten ja eh nicht so genau, was sie eigentlich meinen, wenn sie sich äußern oder Verträge schließen, und deshalb müsse man ihnen einen plausibel erscheinenden Vorschlag machen, wie ihr Wille nun zu verstehen sei. Das Interesse richtet dabei auf die Interpretation des fremden Willens in dem Sinne meiner eigenen Absicht. Davon wird dann aber alles gefärbt, was ich als Deutung der Aussage eines anderen vorbringe. Das Interesse daran, dem anderen meine eigennützige Interpretation seiner Willens-Aussagen als plausibel aufzuschwätzen, führt, konsequent zu Ende gedacht, zur Manipulation und zuletzt zur Auslöschung des fremden Willens. Dies liegt bereits im Ansatz des eigenen Interesses, das ich dem anderen entgegensetze. Was fehlt, ist das das Interesse an der Wirklichkeit des anderen Denkens. Dieses wird mir erst dann zum Objekt, wenn ich es als mit meinen Vorstellungen als nicht übereinstimmend zeigt. Ist das gemeinte Interesse bei mir vorhanden, wird mich diese Nicht-Übereinstimmung immer mehr interessieren, ich werde versuchen, in die meinem eigenen Denken entgegengesetzten Denkinhalte, ja in die andere Denkweise einzutauchen, sie von ihnen heraus nachzubilden, und mich strengstens davor hüten, dadurch irgendwie die Illusion einer ‹Übereinstimmung› entstehen zu lassen. Man kann sich derzeit noch kaum soziale Verhältnisse vorstellen, in denen ein solches Interesse am anderen Menschen zur Geltung kommen könnte. Dennoch ist dieses Interesse heute gefordert …
Es ist sinnlos, über einen anderen Menschen nachzudenken, indem wir unsere Begriffe und die daraus gebildeten Vorstellungen auf ihn anwenden. Es ist nicht nur sinnlos, es ist gemeingefährlich. Wer sich ein Bild gemacht hat von dem, was wir tun, wenn wir die Gegenstände und Vorgänge unserer Wahrnehmung begrifflich zu bestimmen suchen, der wird dies auch für die Naturbetrachtung geltend machen. Um die Weltwahrnehmungen, zu denen auch das eigene Innenerleben gehört, im Denken zu erfassen, müssen wir aus dem Element des Denkens die Begriffe erst hervorgehen lassen, sie denkend erbilden und umbilden, bis wir ein Denk-Gebilde vor uns haben, das durch sich selbst seine Übereinstimmung mit den wahrgenommenen Tatsachen enthüllt. Selbstverständlich wird man zu dieser anstrengenden Tätigkeit nur dann einen Anlaß finden, wenn wir bemerken, daß die uns eigene traumartige ‹Welterklärung› mittels der den Wahrnehmungen übergestülpten gegebenen Vorstellungen und Begriffen nachhaltig gestört ist, daß sich die Unangemessenheit unserer Begriffe in den verheerenden Folgen unserer auf sie gegründeten Taten gegenüber der Natur und der Menschenwelt existenzbedrohend auswirkt und so womöglich doch einen Anlaß geben, die grundsätzlichen Fragen unseres denkenden Verhältnisses zur Welt erstmals ins Auge zu fassen. Wie es scheint, ist dieser Moment welthistorisch eingetreten. Jedermann denkt heute über die menschengemachte Naturzerstörung nach. Weniger denkt man bislang darüber nach, daß die als Alternative präsentierte jeweilige ‹Lösung› gerade das Übel schon sind, das sie zu beheben vorgeben. (Ich erinnere erneut an Pecca-Eric Auvinnen, der eben dieses Problem zum Ausgangspunkt seiner furchtbaren Tat machte.)
Von dem gegenwärtigen Umweltkatastrophalismus bis zu der Frage, wie es denn möglich sein könnte, das menschliche Denken in das richtige Verhältnis zu den Natur- und Welterscheinungen zu bringen, ist es unter Umständen noch ein weiter und gefahrvoller Weg. Daß darin überhaupt das eigentliche Problem der menschlichen Existenz liegen und zu finden sein könnte, ist denen vollständig unerfindlich, die ihr in Bezug auf die Weltvorgänge ganz autistisches Denken auch dann einfach verschlafen, wenn sie ganz offensichtlich mit den objektiven Folgen desselben konfrontiert werden. Solange man der Meinung sein kann, man könne die drängenden Probleme unserer Welt mit den Mitteln lösen, aus deren Anwendung sie doch erst entstehen, kann die objektive, aber verdrängte Perspektive nur auf die Selbstvernichtung der Menschheit hinauslaufen was dann immerhin die wirkende Realität eines Denkens ‹beweisen› wird, dem man gleichzeitig die objektive Wirklichkeit im Weltwesen abspricht, um ohne Verantwortung die Intentionen verfolgen zu können, die den Denkakt triebhaft instrumentalisieren.
Wenn aber das Erlebnis: «Ich verstehe nicht!» dennoch im Bewußtsein einzelner oder im Erleben einer Menschengruppe aus den Fluten indolent-ignoranten intellektuellen Triebhaftigkeit brennend, verstörend auftaucht wie eine Vulkaninsel aus dem kochenden Ozean, so erkennen wir darin nun die strenge Aufforderung zu derjenigen inneren Wende in der Gedankenbildung, die uns veranlaßt, mit dem Denken eben dort anzufangen, wo der triebhaft wirkende Intellekt seine Tätigkeit einstellt.
Um dieser Aufforderung nachzukommen, bleibt uns nicht anderes übrig, als uns zunächst klarzumachen, wie unsere vorhandenen Begriffe sich gegenüber dem Unverstandenen als unzureichend erweisen. Versuchen wir dieser Forderungen nachzukommen, so erschließen wir uns dadurch eine differenziertere Erfahrung dieses Mangels. Betrachten wir diese Erfahrung einmal unbefangen, das heißt verzichten wir auf die Vergewaltigung der Wahrnehmung (zum Beispiel: die Taten eines anderen Menschen) durch unsere gegebenen Vorstellungen, so zeigt sich schlicht: Wir stehen vor einem Unbekannten. Wir betasten es geradezu in uns selbst. Wir spüren unsere Unfähigkeit, seine Entstehung, die Art seines Daseins und Lebens zu erfassen. Das ist aber nicht alles. Wir sind uns zugleich dessen bewußt, daß dieses Erlebnis sich sofort auflösen würde, wenn wir in unserer Selbstzucht in der Zurückdrängung unserer Vorstellungsartefakte nachließen. Das besagt nun nichts anderes, als daß uns die Wahrnehmung des Fremden nicht nur durch dieses selbst aufgedrängt wird, sondern daß es erst durch die Selbstwahrnehmung unserer denkenden Anstrengung in seiner Fremdheit ertastbar wird. Wir berühren so einerseits mit unserem Denken ein Fremdes, das die Vorstellungen, die wir ihm zuordnen wollen, zurückweist. Andererseits erfahren wir, daß unsere vorhandenen Begriffe dem Fremden ihrerseits fremd sind. Indem wir uns die Vergewaltigung und begriffliche Penetration des Fremden verbieten, erscheinen uns die eigenen Begriffe erst als für ein Verstehen unangemessen.
In der Betrachtung dieses Doppelerlebnisses zeigt sich sogleich eine merkwürdige, unerwartete Verwandtschaft unseres aktiven, sich selber negierenden Denkaktes mit dem, was uns Fremdes in unserer Wahrnehmung auftaucht. Die begriffliche Durchdringung des Erlebens der Fremdheit macht letzteres von einer äußeren zu einer inneren Tatsache. Ist dieses Fremde, Unbekannte an die Wahrnehmung einer Person geknüpft, wissen wir, daß uns ihr uns fremdes Denken gegenübertritt. Wir erleben aber dieses fremde Denken in und an unserem eigenen denkenden Tun als den Widerstand, der uns den Zugang zu dem Fremden verwehrt. Indem wir uns verbieten, über die fremde Person einfach unter Anwendung unserer gegebenen Vorstellungen ‹nachzudenken›, werden wir uns gegenüber zu dem Anwalt seines unbekannten Wesens. Wir versetzen uns damit in eine zunächst ganz hilflose Lage dem Fremden gegenüber. Es dringt auf uns ein, und wir erleben dabei seine Anwesenheit in unserem Bewußtsein als die partielle Auslöschung desselben. Dort, wo wir das Fremde wahrnehmen, hört unsere Vorstellungsmöglichkeit auf. Aber, wie sich jetzt zeigt, nicht unsere Denkfähigkeit. Zweifellos ist dieses innere Erlebnis des äußeren Fremden wie das Tasten überhaupt gleichzeitig sowohl subjektiv als auch objektiv. Subjektiv ist es, weil es ohne meine eigene denkende Anstrengung nicht auftritt. Objektiv ist es, weil ohne die Wahrnehmung des Fremden kein Widerstand vorhanden ist, an dem ich mich zur Denkanstrengung aufschwingen kann. Beschreiben wir uns dieses subjektiv-objektive Erlebnis nun näher, so können wir eine Reihe von Beobachtungen tätigen, die insofern völlig neu sind, als wir sie ohne unsere Eigentätigkeit überhaupt nicht haben können. Sie treten nicht wie gegebene Tatsachen auf, sondern sie sind an unser denkendes Tun gebunden, erweisen sich erst als real an und in diesem. Hören wir mit dem Denken auf, verschwinden sie auch wieder.
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Der Ausdruck ‹Erleben des Unverstandenen› ist ein Genitiv. Dieser ‹Zeugungs-Fall› verschwindet gegenwärtig aus dem deutschen Sprachgebrauch und damit aus dem Bewußtsein. Der Grund dafür liegt darin, daß der Genitiv die strikte Trennung von Subjekt und Objekt negiert. Der obige Ausdruck kann auf zweierlei Art verstanden werden: Als genitivus objectivus (Das Unverstandene wird von mir erlebt und ist somit Objekt) und als genitivus subjectivus (Das Unverstandene erlebt selbst, ist Subjekt des Geschehens). Beide Formen sind möglich, ja gefordert. Die dadurch entstehende Unsicherheit über die Bedeutung wird von dem intellektualistischen Selbstverständnis, das von der subjektlosen Totheit des ihm gegebenen Objektes ausgeht beziehungsweise diese anstrebt, als Bedrohung empfunden. Dieser wird begegnet, indem wir instinktiv den Genitiv zum Beispiel durch den (scheinbar) eindeutigen Dativ ersetzen.
Betrachten wir zunächst den genitivus objectivus. In der denkenden Zuwendung an ein ‹unverständliches Wesen› als Objekt unseres Bewußtseins erleben wir zum Beispiel die Tatsache zunächst sehr stark, daß es unsere eigene Vorstellungswelt aktiv negiert, vernichtet. Es weist alles zurück, was wir an es herantragen. Wir erleben, wie wir aller Möglichkeiten beraubt werden, ihm mit einem vorgegebenen Inhalt entgegenzutreten. Wir werden dadurch sozusagen in den Status eines Idioten versetzt. Dies ist für unsere noch vorhandene und wirksame intellektuelle Bewußtseinsverfassung eine schwere Belastung. Unser ‹normales› Selbstgefühl, das sich heute immer noch auf die Macht des Intellekts stützt, sich die Welt ebenso wie die Erlebnisse in ihr nach den eigenen Vorstellungen zurechtzulegen, wird dadurch stark beeinträchtigt. Unwohlsein entsteht. Es erscheint uns von dem jetzt eingenommenen Beobachterstandpunkt aus durchaus verständlich, daß dieses Unwohlsein von dem die intellektuelle Gewaltherrschaft über die Erfahrungswelt ausübende Ich nicht einfach hingenommen wird. Wenn wir diese jedermann im Grunde bekannte Tatsache nicht einfach ignorieren wollen was dazu führen würde, unsere noch immer durchgehend intellektuell bestimmte Identität zu verlieren und in Schwärmerei zu verfallen so müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf diese ‹normale› intellektuelle Reaktion richten, mit der wir die Infragestellung unseres Selbstgefühls durch das reine Denken gegenüber den Wahrnehmungen des Fremden instinktiv abwehren. Indem wir unsere inneren Reaktionen beschreiben lernen, werden sie aus einem dumpfen Lebensgefühl zu differenzierten Erlebnissen, an denen wir mehr über uns erfahren können als durch die spekulative Auskultation des reinen Denkaktes, den wir doch erst ausbilden müssen. (Dessen nachvollziehbare Darstellung kann nur von demjenigen gegeben werden, der ihn vollständig beherrscht und zudem die Art kennt, wie er sich durch übende Umbildung des intellektuellen Denkens entwickeln kann.)
Was ist unsere spontane Reaktion auf das Erlebnis des fremden Unverstandenen? Mit dem Fremden konfrontiert, suchen wir sofort nach einem Gegenmittel, welches das eintretende Ohnmachtsgefühl, die Beleidigung unseres Verstandes durch das Unverständliche und so weiter wenn nicht heben, so doch zum Erträglichen abmildern kann. Wir finden zunächst die Möglichkeit, entweder die Aufmerksamkeit von dem Unbekannten abzuwenden, oder ihm einfach unsere Erklärungen aufzuzwingen. Wenden wir uns von ihm ab, so möchten wir das Erlebnis mit ihm vergessen. Wir gehen dabei davon aus, daß ein Unverstandenes bloß eine vernachlässigbare, zufällige Unregelmäßigkeit des normalen Weltlaufes ist, und somit nicht durch eine objektive Notwendigkeit in unser Bewußtsein eintritt. Mit der anderen Abwehrreaktion versuchen wir das sich aufdrängende Unverstandene als ‹verstanden› zu klassifizieren und so dessen verheerende Wirkung für unser intellektuelles Selbstverständnis unschädlich zu machen. Wir nehmen aber dem Unbekannten dadurch sein Eigenwesen ein anderer Ausdruck für ‹töten›. Uns ist dabei nicht klar, daß wir zugleich unsere eigene lebendige Denktätigkeit aufheben und an ihre Stelle die dem Denkprozeß entfallenen, abgestorbenen Vorstellungsartefakte setzen. Damit ignorieren wir aber unser Denk-Gewissen. Sein Denkgewissen kann auch den Intellektualisten darauf aufmerksam machen, daß es in dem zu Tode Erklärten noch Hinweise auf ein Unverstandenes gibt. Ginge er diesem Hinweis nach (Geh-wissen!), würde er zunächst bloß zu neuen ‹Erklärungen› angeregt. Diese verlaufen so lange nach dem bekannten intellektuellen Muster, bis endlich die Wende eintritt und das Denken nicht das Objekt, sondern sich selbst zu bearbeiten beginnt.
Beschreiben wir diese Ausweichbewegungen weiter, so ergibt sich ein verstörendes Bild des eigenen Tuns, ein Horrorszenario, das dem Laboratorium eines Doktor Frankenstein zu entstammen scheint. Was tun wir? Wir fixieren das Fremde, Unbekannte in den Schraubstöcken unserer Paradigmen und penetrieren es mit unseren Gedanken-Konstrukten, immer mit dem Ziel, sein widerspenstiges Eigenwesen abzulähmen bis es sich genau so verhält, wie wir es aufgrund unserer Machtphantasien uns wünschen. Und doch fühlen wir, wenn der göttliche Geist uns gnädig ist: «Geheimnisvoll am lichten Tag | Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben, | Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, | Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.» (Goethe, Faust I, Studierzimmer) Sind wir von den guten Geistern aber gänzlich verlassen, so weckt diese innere Widerspenstigkeit unsere Wut, eine Wut, die sich aus der ungeheuren Macht des gewöhnlichen intellektualistischen Selbstverständnisses speist. Nun sind uns alle Mittel recht, den Widerstand zu brechen, der die Voraussetzungen unseres Selbstverständnisses frech negiert. Indem wir dies so beschreiben, sehen wir uns dem Unbekannten als einem wie subjekthaft agierenden Wesen gegenüber. Dies führt auf den anderen der oben genannten Aspekte:
Was ist, wenn dieses Unbekannte nun tatsächlich ein lebendiges Wesen wäre wie wir selbst? Was würde dieses lebendige Wesen durch unser Tun und Lassen erleben? Wäre zunächst unsere fleißige Ignoranz seines Eigenwesens für es nicht eine Art gewaltsame Ausstoßung, eine Vertreibung aus der Welt, der es doch wie wir angehört? Und wie wirkt gar auf ein solches Wesen unser Unterfangen, es mit den Vorstellungen zu ‹erklären›, die seinem Wesen gar nicht angemessen sind? Mit dieser Frage tauchen wir in die Erlebnisse ein, die wir durch unser Tun erst erzeugen. Fragen wir einfach weiter: Müßte dieses fremde Wesen sich seinerseits nicht unserem unbedingten Vernichtungswillen gegenüber gestellt sehen? Und gesetzt den Fall, dieses Wesen könnte sich nicht einfach von uns so abwenden, wie wir meinen, es ihm gegenüber zu dürfen, einfach weil es keine Rückzugsmöglichkeit in eine andere Welt als die uns gemeinsame hat: Wäre dann unser Tun für dieses Wesen etwa nicht wie ein ‹Ins-Gesicht-Spucken›? Käme es ihm nicht so vor, als würden wir es fesseln, ihm unseren Gedankenmüll gewaltsam in den Schlund pressen wie die Soldateska den armen Bauern im 30jäjhrigen Krieg den ‹Schwedentrunk› aus seiner Jauchegrube? Und verlangen wir nicht zudem, daß der so Malträtierte uns zwischen zwei solchen therapeutischen Maßnahmen noch lobt und dankt ob der einfühlsamen Verstehensbemühung, die wir ihm entgegenbringen? Würgen wir ihm nicht unsere Urteile die Kehle hinunter, damit er endlich aufhört, zu uns Worte zu sprechen, die uns hilflos machen, weil wir sie nicht verstehen, und anfängt dasjenige wieder von sich zu geben, was wir soeben in ihn eingefüllt haben? Wer jetzt nicht das Bild unseres gewöhnlichen Schulunterrichtes entdeckt, der sollte sich um eine weitere Konkretisierung der Szene bemühen, und durchschauen, was hinter der schöngemalten Kulisse unserer Erziehungsanstalten wirklich vorgeht.
Aber diese Aufforderung wirft sogleich die Frage auf: Wollen und können wir uns überhaupt in die Lage eines solchen Wesen versetzen? Und wollen und können wir uns vorstellen, daß dieses Wesen nicht bloß ein Mensch wäre, sondern immer der andere MENSCH? Die Frage fordert ein Ja. Ist dieses Ja aber möglich? Warum sollten wir uns das antun? Warum sollten wir uns bemühen, die Beobachtung unseres eigenen Tuns nicht bloß wie ein tändelndes Gedankenspiel zu betreiben, sondern seine real-soziale, seine geistige Wirklichkeit wahrzunehmen? Gibt es einen stichhaltigen Grund dafür? Das heißt: erleben wir irgendwo irgendwie einen Stich in unser Herz, der uns die tödliche Wirklichkeit unseres im hypnotischen Tiefschlaf ausgeführten Abwehrkampfes gegen den Anderen wenigstens zu einer Art alptraumartiger Präsenz bringt? Oder lassen wir uns die Schlafmittel, zum Beispiel die von den Horrorfilmen Hollywoods zu toten Vorstellungsbildern abgelähmte Wirklichkeit unserer selbst, als angenehmen Schauer zur unserer Unterhaltung verabreichen, während um uns herum im wörtlichen Sinne, wenn man nach Irak und Palästina, nach Guantanamo oder Afrika blickt die Hölle losgelassen ist, der wir unsere zweifelhafte Existenz als Weltbeherrscher ‹verdanken›.
Sprechen wir hier nicht schon lange von Seung-Hui? Bislang wird uns sein Manifest von den Behörden vorenthalten. Nur einige Sätze aus seinen Videobotschaften wurden veröffentlicht. «Wisst Ihr, wie man sich fühlt, wenn einem ins Gesicht gespuckt und Müll die Kehle hinunter gezwungen wird? Wisst Ihr, was für ein Gefühl das ist, sein eigenes Grab zu schaufeln? Wisst Ihr, wie man sich fühlt, wenn einem die Kehle von Ohr zu Ohr aufgeschlitzt wird? Wisst Ihr, wie es sich anfühlt, lebendig verbrannt zu werden? Wisst Ihr, wie es sich anfühlt, gedemütigt und am Kreuz aufgespießt zu werden, um zu Eurer Unterhaltung zu verbluten?»
Beobachten wir noch einmal unsere spontane Reaktion auf diese Sätze Heung-Suis. «Das also sagt er uns nach seiner Tat. Hätte er es nicht vorher sagen können? Mußte es zu diesem Massaker kommen, nur um seinem unsinnigen Klagelied öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen? Warum war dieser Junge bloß so furchtbar empfindlich und hat unser doch eigentlich ganz normales Verhalten uns so arg übel genommen? Mein Gott, das sind doch alles Lappalien! Und wenn es ihn schon so schmerzte: Hätte er uns nicht darauf aufmerksam machen können, daß wir ihm schon wehtun, wenn wir ihn eben so einschätzten und beurteilten, wie er sich uns gezeigt hat? Wir haben ihn nicht gerade geschont, aber immerhin doch von ihm Notiz genommen. Jeder Mensch will doch, daß man ihn in seiner Umgebung irgendwie wahrnimmt, ihn wenigstens ein bißchen versteht, auch wenn es noch ein Mißverständnis ist. Was können wir dafür, daß er so anders fühlt? Er hätte unsere spitzen Bemerkungen doch leicht als humorvolle Aufforderung verstehen können, sein komisches, unangemessenes Gehabe zu ändern! Statt dessen hat er nicht mehr mit uns gesprochen. Nicht einmal auf ganz normale Fragen hat er geantwortet! Kein Wunder, daß ihm sein abweisendes Verhalten auch zurückgespiegelt wurde.»
Nehmen wir diesen ersten Einwurf einfach zur Kenntnis und nutzen den Vorteil, daß wir schon ein wenig zu denken versuchen. Betrachten wir ihn und fragen wir uns an seiner Hand: Wie fühlt man sich denn, wenn den anderen jedes Wort, das man sagt, erst seltsam, dann lächerlich und schließlich ärgerlich vorkommt? Wenn sie spüren, daß das eigene Innere, aus dem die Worte kommen, anders ist und sich anders versteht als die, denen es doch etwas sagen soll? Und die sich schon im Ansatz des eigenen Redeversuchs höhnisch abwenden? Muß man da nicht verstummen? Und wenn ich mich zunächst gegen das Stummwerden wehre, sprechen will, aber dabei die Erfahrung mache, daß ich kein Wort mehr herausbringe, weil mir niemand zuhören will oder kann, sondern ich statt dessen mit jenem Gedankenmüll malträtiert werde, ohne mich jemand jemals mich anzuhören bereit ist und dabei doch ganz genau weiß, daß ich eben ‹anders› und damit ein Nichts für ihn bin, und jeder seine Urteile über mich kaltlächelnd ausspricht, gegen die ich mich, schon geknebelt, nicht mehr wehren kann: Fühlt sich dies nicht an, als würde einem «die Kehle von Ohr zu Ohr aufgeschlitzt»? Und statt der erstickten Worte gurgelt einem das Lebensblut, das warme Ich-Gefühl aus dem Hals, während man sich dabei zusieht, wie man innerlich verreckt. Sind Urteile dieser Art für eine solche Empfindung nicht wie ein Flammenwerfer, der den Körper des eigenen Selbstgefühls in Brand setzt, und man fühlt sich, als würde als würde man lebendig verbrannt, festgenagelt an dem Koordinatenkreuz der Ignoranz, an jene unbefragbare und mit der Sicherheit eines tierischen Instinkts praktizierte Welt- und Lebensauffassung, die für ein anderes Wesen, als jene es mit ihren dumpfen Begriffen bloß meinen ‹verstehen› zu können, vollkommen indolent ist? Und wenn man sich windet und als Geknebelter seinen Schmerz, seine Verzweiflung und Wut doch noch auszudrücken versucht, verblutet man da etwa nicht zu eurer Unterhaltung wie einst die Christen im Circus Maximus vor den erheiterten Römern?
Was ist denn ein so ungeheuer empfindender Mensch wie Heung-Sui für uns, wenn wir ihn denn wenigstens schemenhaft überhaupt wahrnehmen? Wir sind uns einig: Ein wehleidiger Junge (‹pathetic boy›), der nicht mal das bißchen Selbstbewußtsein aufbringt, um uns, wenn wir ihn ärgern, zu sagen: «Leckt mich doch!». Der seinen pubertären Weltschmerz in seine 20er Jahre mitgeschleppt hat und sich darin gefällt, das Leiden Christi selber zu sein! Vielleicht nur, weil er keinen Mercedes, keine goldenen Kettchen, keine Anteile an einem lukrativen Treuhänderfonds besaß und sich womöglich nicht einmal seinen täglichen Wodka oder Cognac zur gesunden Realitätswiederfindung leisten konnte! War Hitler nicht auch Antialkoholiker und Vegetarier? Dieser Koreaner hatte vielleicht nichts oder bloß zu wenig von dem, was wir uns so gönnen. Auch nicht das, mit denen wir alle unseren Weltschmerz mannhaft bewältigt haben: Eine Freundin! Das ist wahrlich schlimm für ihn. Aber wenn uns das passiert, sagen wir: Was nicht ist, kann ja immer noch werden. Warum hat dieser bloody fool nicht an die Zukunft und daran geglaubt, daß er es auch einmal besser haben könnte? Er hätte doch mitmachen können bei dem, was wir alle tun, um einigermaßen unterhaltsam über die Runden zu kommen. Noch Fragen, Hauser?
Nun, bleiben wir an diesem Einwand. Warum ist eine solche Einrede gegen das Unergründliche denn so sehr einleuchtend, daß jeder, der ihr wie der Autor hier widerspricht, seinerseits umgehend als weltfremder Idiot erscheinen muß? Weil diese Einrede die Auffassung, gegen die sie sich richtet, plattmacht wie eine tonnenschwere Abrißbirne eine Holzhütte. Und warum machen wir sie platt? Was ist an der Auffassung Heung-Suis so Ärgerliches, daß wir ihr gegenüber unsere Denkfähigkeit verlieren und sie nicht einmal in Ruhe ansehen können? Offenbar stellt dieser ‹wehleidige Junge› unsere Weltauffassung total in Frage. Wenn alles das, was uns wertvoll erscheint, was uns den Sinn des Daseins verbürgt, was uns die Sicherheit gibt, daß wir existieren, was unserer Welt den sicheren Boden der Realität verleiht, für ihn ein Nichts ist, dann wäre doch die Frage angebracht: Was will er denn dann von uns? Was hat er mit uns zu schaffen? Warum verabschiedet er sich nicht einfach klammheimlich und geht ins Wasser, gibt sich die Kugel oder hängt sich auf? Offenbar ist ihm nicht nach einem stillen Abgang, wie ihn so viele wählen. Er will etwas von uns, das wir nicht geben wollen. Er will Aufmerksamkeit. Nach der bei der Polizei beliebten Adlerschen Psychologie also eine angemessene Kompensation seines Minderwertigkeitskomplexes angeblich das Motiv für sozio-kriminelle Handlungen. Aufmerksamkeit erringt man, wenn man in unseren Augen etwas geworden ist. Seung-Hui beschwert sich aber darüber, daß wir uns nicht dafür interessieren, wie jemand dabei versagt, sich ein Stück vom großen Kuchen abzugreifen. Aber er will doch gar nicht mitgreifen! Wir sollen uns also viel mehr dafür interessieren, warum jemand wie er an unserer Welt nicht teilhaben will. Er ist offenbar der Meinung, daß er auf ein solches Interesse Anspruch habe, daß er sogar Respekt verdiene, weil er sich auf eine innere Welt und ein Wertesystem bezieht, das wir jede Stunde verwerfen, das wir nicht einmal prüfen, einfach weil wir genau wissen oder fühlen, daß es uns nichts, aber auch gar nichts bringt, ja, das sogar alles das in seinem Wert vernichtet, was unser Leben ausmacht. Worauf bezieht er sich aber bei dieser Forderung? Woher hat er dieses Selbstbewußtsein? Müßte er nicht in einer Kirche seine Botschaft vom armen Leben denen vorjubeln, die sich den Verlust der Aussicht auf Teilhabe an unserem Reichtum mit frommen Gesängen und anschließendem Tanztee versüßen wollen? Könnte er nicht seine Energie in die Heilsarmee stecken, oder doch zumindest als Bettelmönch in Indien die Erleuchtung im Nirwana suchen? Offenbar ist Seung-Hui aber weder die Welt der Religion noch unsere des materiellen Reichtums genug. Er will mehr, und wir sollen es ihm geben: Er will unser Bewußtsein auf seine Auffassung, sein Selbstverständnis lenken. Und er will dies zudem nicht bloß für sich; er betrachtet sich als Sprecher von kommenden «Generationen schwacher und schutzloser Menschen». «Wie Moses teile ich das Meer und führe mein Volk, die Schwachen und Wehrlosen, die unschuldigen Kinder jeden Alters.» Er kommt sich also vor wie Moses, als der vor den Pharao trat und sagte: Gib mein Volk frei! Moses! Er behauptet damit, die Leute könnten nicht selbst für sich sprechen, und er müsse es tun. Was sollen wir Leute aber begreifen? Daß die ‹unschuldigen Kinder›, die Schwachen und Wehrlosen, nur dann leben können, wenn wir sie, statt sie so zu behandeln, wie wir ihn behandeln, sie konsequent vor uns selbst und unseren Urteilen, unseren Werten, unseren Zielen schützen. Nein, nicht bloß das, er will keine Versprechen mehr, die wir sowieso nicht halten können, weil sie mit der Staatsräson und der Macht des Geldes und der Lobby, ja mit unserem ganzen Lebensgefühl nicht zu vereinbaren sind, er ist schon viel weiter. Nicht vor uns Pharaos steht er, sondern schon vor dem Roten Meer. Wir sind ihm und seinem reizenden Verweigerer-Völkchen längst auf den Fersen, es gibt kein Entkommen, außer ein Wunder geschieht. Und dieses Wunder ist also seine Tat, sein Massenmord. Er teilt die Flut des täglichen, stündlichen, allgegenwärtigen Materialismus, seine kurzen, schnellen exakt gesetzten Schüsse reißen eine uns nun doch eine Weile brüllend schmerzende Lücke in unser soeben noch indolentes Selbstbewußtsein, wir sind in der Tat erschüttert, wanken fast: Denn es ist nicht ein, sind nicht zwei, nicht zehn, nicht 13 es sind 30 tote junge Menschen, 28 davon aus einem Deutschkurs, und zwei ihrer netten Lehrer, die hinfallen, hinübergehen müssen, damit der angebliche Fluchtweg sich auftut.
Wie kann er aber bloß glauben, daß diese ausgelöschten Leben einen Fluchtweg eröffnen? Ist er denn Anthroposoph und sich somit sicher, daß die Toten ihn, den Toten, nun doch verstehen wollen und können, daß sie nun sein Anliegen erfassen, daß sie sich nun entschließen werden, mit ihm im nächsten Leben bald, sehr bald wiederzukommen, um gemeinsam nun zu beginnen, was bis dahin nicht möglich sein wird? Mordete er, um endlich fertig zu werden mit den falschen Hoffnungen, den Vertröstungen, den Ablenkungen, damit überhaupt erst ein Anfang möglich sein wird? Anfang von was? Was sollte da anfangen, wenn nicht eine Bewegung von Menschen, die unseren selbstverständlichen Materialismus nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen überwunden haben, die aus diesem Leben herausgerissen wurden durch die Tat eines neuen Moses, der mit ihnen aufrecht und klar durch seinen und ihren Tod schreitet wie der alte Moses durch das Rote Meer, unbehelligt von unseren Nachstellungen, denn wir können ihm dahin nicht nach, und dann aber doch mit ihnen wiederkommt, um anzuwenden, was sie miteinander gelernt haben? Und was sollen sie dann anderes bewirken als erneut gegen die Wand zu rennen und wieder zu sterben? Haben wir es etwa mit einem Urchristen zu tun, der das mächtige Gebot des neuen Cäsars O'Brien, wie ihn George Orwell schuf, überwinden will: diese Christenleute also, die einen Toten als Gott anbeten, und selber ihr Heil darin suchen, wie er zu sterben, nicht zu Märtyrern zu machen, ihnen keine Aufmerksamkeit zu gewähren, sie wachsam und bewußt zu ignorieren und ihnen auf Zimmer 101, in den Schulen also, den Erziehungs- und Lehranstalten, das letzte Quentchen Bewußtsein ihres Anspruchs auf geistige Selbstbestimmung auszuradieren, um sie dann vor den Fernseher zu setzen und sie mit dem Tittytainment-Infomüll, der über alle Kanäle in jede verkabelte Hirnschale abgeladen wird, das bloß noch lallende Maul auch von innen zu stopfen? Sollte demnach Gefahr bestehen, daß der Selbstmordattentäter, der doch gerne und willig, aber unbewußt unser Geschäft im nahöstlichen Ausland verrichtet, bei uns zu Hause etwa außer Kontrolle gerät? Dies wäre nur dann zu befürchten, wenn er nicht ein Einzelfall bleibt.
Doch was erreicht er denn durch seine Vervielfältigung? Daß wir nur noch enger zusammenrücken, daß wir noch wacher auf abweichendes Verhalten achten und daß unsere Maßnahmen zur präventiven psychiatrischen Massenbehandlung immer mehr Akzeptanz finden. Aber besteht nicht die potenzierte Gefahr, daß wiederum gerade dadurch zwar artikulationsunfähige, genetisch veränderte, im Denken ruhiggestellte und dafür um so mehr aufgesexte junge Leute sich plötzlich als ‹erwachende Schläfer› erweisen, und als todesverachtende, irrational gesteuerte, kaltblütig entschlossene Homeland-Attentäter auftreten und sich gar ebenso zur Epidemie auswachsen, wie die Urchristen im alten Rom, die immer zahlreicher wurden, je mehr von ihnen der Staat spektakulär umgebrachte hatte? Nein, diese Sorge ist unbegründet. Diese Gefahr würde nur bestehen, wenn sich tatsächlich ein Weg durch das Rote Meer eröffnen würde, wenn hinter dem neuen Moses-Bewußtsein, der bewußt erlebte Tod sei ein Anfang und nicht ein Ende, eine Realität wäre und nicht bloß ein bedauerlicher Irrtum eines unbelehrbar verrannten Jugendlichen, der sein Leben für einen Hirnfurz wegschmeißt. ‹Selbstverständlich› ist es doch so: Das Rote Meer teilt sich nicht, und wir kriegen sie alle und ersäufen sie dann darin. Denn der neue Moses hätte nur dann recht, wenn wir alle aus einer anderen Welt stammen als derjenigen, in der wir geboren werden, aufwachsen, unseren Spaß haben und schließlich ins grüne Gras oder auch in ein Bündel Greenbacks beißen. Wenn es nicht bloß ein Leben nach dem Tode gäbe, für das man sich durch seinen Erfolg hierzulande bestens vorbereiten könnte, wie uns die Kirchen zeigen, die doch wirklich staats- und wirtschaftstragend sind. Sondern wenn es ein Leben vor der Geburt gäbe, aus dem heraus wir erst auf diese Welt kämen, nicht als unbeschriebene Blätter, sondern mit einem Auftrag, den wir zu erfüllen womöglich ein Leben lang vergessen haben, der uns aber immer einholen will, damit wir ihn vollbringen. Der neue Moses würde sich erst dann auf eine andere, auf eine ureigene Realität stützen können, die nicht ein bestimmungsloses, wesenloses Urleben in der Keimbahn wäre, sondern eine vergessene, aber gerade deshalb in sich selbst konkrete Anforderung darstellte.
Denken wir dieses Horrorszenario weiter aus, so erweist sich uns eine fatale Notwendigkeit: Gerade die Überzeugung, daß es eine solche vorgeburtliche Existenz nicht gibt, wird eine Haltung gegenüber den Kindern und Jugendlichen begründen, die ihnen de facto und de verbo weiterhin das Recht abspricht, ihrer ihnen zunächst unbewußten Intentionen bewußt zu werden. Und zwar gerade dann, wenn es bald sogenannte ‹Kinderrechte› in der Verfassung geben wird.
Nun, ein solches Bewußtsein könnte sich ja nur dann aus seinen unbewußten, aber real ‹geistigen› Untergründen entwickeln, wenn wir die Schulen frei machten, wenn die Lehrer die Aufgabe erkennen und erfüllen könnten, im Gespräch mit der jungen Generation deren Anliegen in einer freien Art und Weise zunächst zu bewahren, und ihm dann zur Geburt zu verhelfen, auf daß sie als ihrer selbst bewußte ‹Vollmenschen› in die Gesellschaft einträten, um sie nach ihren Impulsen zu verändern. Da wir aber dazu gar keinen Anlaß sehen, da wir diese Gedanken Rudolf Steiners[8] geradezu lächerlich oder auch gefährlich finden, wird die kommende Generation, so sie denn überhaupt solche geistigen Impulse mitbringt, diese niemals erfassen oder gar realisieren können. Das Problem der juvenilen Abweichler werden wir wie schon bisher mit psychologischer Konditionierung, einer umfassenden Drogenpolitik, mit einer raffinierten Erziehungsmethodik, mit der Umlenkung der aufgestauten Energie in Haß auf angeblich andersartige Gruppen und zuletzt mit dem ‹finalen Rettungsschuß› bewältigen …
Nun, sollte dieser neue Moses aber doch recht haben, wird es sicher noch einige ‹unangenehme› Vorkommnisse geben wie in Littleton, Erfurt, Emsdetten, Blacksburg, Tuusala, um nur einige zu nennen. Diese werden aber letztlich bloß unsere harten, aber im Grunde von Liebe zu dem wertvollsten Rohstoff unserer Gesellschaft, dem gut ausgebildeten und erfolgsorientierten Menschen, durchdrungenen Maßnahmen noch sinnvoller erscheinen lassen. Das einzige, was diese unsere Vorsorge zunichte machen könnte, wären Kinder und Jugendliche, die ihre aus den Geistigen herausdrängenden Willensakte ohne die Einschaltung des bald von uns perfekt steuerbaren Gehirns ausführen könnten. Deshalb ist es ja ein so ein dringendes Erfordernis, wissenschaftlich nachzuweisen, daß es einen leibfreien Geist nicht gibt, daß allein das Gehirn unsere gesamte Persönlichkeit steuert und bestimmt, und daraus die praktischen Konsequenzen für die Erziehung zu ziehen.
«Wer diese Dinge überschaut, für den wird die Begründung einer Menschengemeinschaft, welche die Freiheit und Selbstverwaltung des Erziehungs- und Schulwesens energisch erstrebt, zu einer der wichtigsten Zeitforderungen. Alle anderen notwendigen Zeitbedürfnisse werden ihre Befriedigung nicht finden können, wenn auf diesem Gebiete das Rechte nicht eingesehen wird. Und es bedarf eigentlich nur des unbefangenen Blickes auf die Gestalt unseres gegenwärtigen Geisteslebens mit seiner Zerrissenheit, mit seiner geringen Tragkraft für die menschlichen Seelen, um dieses Rechte einzusehen.» Rudolf Steiner
Ich höre jedenfalls nicht auf, nach den Motiven der jugendlichen Mörder zu fragen.
Im November 2007 Rüdiger Blankertz
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[2] Siehe Prof. Freerk Huisken, «Thesen zur Tagung der Petra-Kelly-Stiftung über Gewaltprävention:
Warum ‹Jugendgewalt› eine Ideologie ist und vernünftige ‹Gewaltprävention› nicht geht.» Quelle
[6] Diese wird von Rudolf Steiner gefordert: Er blickt dabei auf «die Tatsache der Lebensfremdheit dessen, was man denkt gegenüber dem, was zum Beispiel die wirtschaftliche Wirklichkeit fordert. Kann man denn hoffen, die verworrenen Zustände des öffentlichen Lebens zu bewältigen, wenn man an sie mit einem lebensfremden Denken herantritt? Diese Frage kann nicht gerade beliebt sein. Denn sie veranlaßt das Geständnis, daß man lebensfremd denkt. Und doch wird man ohne dieses Geständnis der «sozialen Frage» auch fern bleiben. Denn nur, wenn man diese Frage als eine ernste Angelegenheit der ganzen gegenwärtigen Zivilisation behandelt, wird man Klarheit darüber erlangen, was dem sozialen Leben nötig ist.» Rudolf Steiner, ‹Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft›, Vorrede 1920, GA 23
[7] Rudolf Steiner, ‹Die Philosophie der Freiheit. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode›, 2. Auflage Dornach 1918, diverse Neuauflagen